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Auf der Gedenktafel steht: "Stätte der Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Hier
haben Gestapo und Hitlers Gendarmerie 1600 Menschen bei lebendigem Leib
verbrannt." Die Gedenktafel befand sich unweit des Marktplatzes der
ostpolnischen Kleinstadt Jedwabne rund 120 Kilometer nordöstlich von Warschau.
Die Ortschronik wartet mit Einzelheiten
auf: Am 10. Juli 1941 haben die deutschen Besatzer die ansässigen Juden in eine
große Scheune getrieben und diese dann in Brand gesetzt. Ähnliche Fälle in
anderen Gegenden Polens sind verbürgt und dokumentiert; mal war es eine Scheune,
mal eine Kirche, auch waren es nicht nur Juden, sondern auch katholische Polen,
die von deutschen Soldaten und Feldpolizisten zusammengetrieben und verbrannt
wurden.
Vor wenigen Wochen wurde die Tafel
entfernt, offenbar stimmt ihre Botschaft nicht mehr. Denn es waren wohl nicht
Deutsche, die die Juden von Jedwabne ermordet haben, sondern Polen. Unter dem
schlichten Titel "Nachbarn" erschien nun ein Buch zu dem "Pogrom von Jedwabne",
verfasst von dem amerikanischen Professor Jan Thomas Gross. Zuvor hatte die
konservative Tageszeitung Rzeczpospolita über den Massenmord berichtet. Die
Publikationen haben in Polen die heftigste historische Debatte des vergangenen
Jahrzehnts ausgelöst - und ihr Ende ist noch nicht abzusehen.
Schlimmer als Kielce
Gross hat Berichte von Augenzeugen
ausgewertet, die in den bewegten Wochen nach dem deutschen Überfall auf die
Sowjetunion im Sommer 1941 in Jedwabne lebten. Die rund 3000 Einwohner zählende
Gemeinde - mehr als die Hälfte waren Juden - wurde im September 1939 von der
Roten Armee besetzt. Sie befand sich in dem Teil Polens, der im
Hitler-Stalin-Pakt der sowjetischen Einflusszone zugeschlagen worden war. Gross
kam zu dem Fazit, dass Polen, die jahrzehntelang mit den Juden mehr oder wenig
friedlich zusammengelebt hatten, in den Wirren nach dem deutschen Vormarsch ihre
Nachbarn umgebracht haben.
Jedwabne steht somit für das größte von
Polen an Juden verübte Verbrechen. Es übertrifft bei weitem das Pogrom von
Kielce vom Juni 1946. Der amerikanische Professor ist nicht der Erste, der den
Massenmord von Jedwabne untersucht hat. 1949, acht Jahre nach den Ereignissen,
gab es dazu sogar einen Strafprozess. Zwei Dutzend Männer aus Jedwabne und
Umgebung standen vor Gericht, die meisten wurden zu hohen Gefängnisstrafen
verurteilt, einer sogar zum Tode. Zwar sind Zweifel angebracht, ob es sich um
ein faires Verfahren handelte; in Warschau herrschten die polnischen
Stalinisten, die das Recht als politisches Instrument missbrauchten. Doch decken
sich die Prozessakten über weite Strecken mit den von jüdischen Institutionen
zusammengetragenen Zeugenaussagen.
Aus ihnen geht hervor, dass es sich bei
den Tätern durchweg um einfache Leute handelte, keiner von ihnen war
vorbestraft. Einige von ihnen hatten offenbar schon in den Tagen zuvor am Pogrom
in der Kleinstadt Radzilow unweit von Jedwabne teilgenommen, dem ebenfalls
mehrere Hundert Menschen zum Opfer fielen.
Als sich die Nachricht der Ereignisse von
Radzilow verbreitete, fuhr eine Abordnung jüdischer Organisationen aus der
Region in die Bezirksstadt Lomza und bat den dortigen Bischof um Hilfe. Dieser
versprach, sich für die Juden einzusetzen; doch wenig später wurde er von der
Gestapo verhaftet. Die Nazi-Führung plante, nicht nur die Juden, sondern auch
die katholische Intelligenz Polens zu vernichten.
So waren die Juden von Jedwabne
schutzlos. Doch nur wenige von ihnen entkamen der Hatz und dem Morden. Einer war
Szmul Wasersztajn. Ihn und sechs weitere seiner Leidensgenossen versteckte die
katholische Familie Wyrzykowski in einem Stall ihres Bauernhofes, und zwar bis
zum Rückzug der Wehrmacht aus Ostpolen drei Jahre später. Die Wyrzykowskis
setzten dabei ihr Leben aufs Spiel.
Antonina und Aleksander Wyrzykowski
wurden später von der israelischen Regierung als "Gerechte unter den Völkern"
ausgezeichnet, wie 5500 andere Polen, die Juden gerettet hatten. Doch in ihrer
Heimatgemeinde wurden sie nach dem Krieg als "Judenhelfer" angefeindet. Aus
Angst vor Angriffen verließen sie ihre Heimat.
Der von ihnen gerettete Wasersztajn
schrieb noch 1945 einen Bericht für die polnischen Behörden, in denen jüdische
Kommunisten wichtige Positionen einnahmen. Eine Untersuchung wurde eingeleitet.
Seine Aussagen hat er Jahrzehnte später gegenüber Jan Thomas Gross bestätigt. Im
Frühjahr 2000 ist Wasersztajn gestorben, Gross hat ihm sein Buch gewidmet. Die
Kernaussage: An jenem 10. Juli gab die Gestapo, die eine kleine Delegation nach
Jedwabne entsandt hatte, dem polnischen Bürgermeister acht Stunden Zeit, um "mit
dem Judenproblem fertig zu werden". Dieser sei dann Organisator des Pogroms
gewesen, allzu bereitwillig sei er der Aufforderung von Seiten der Gestapo
gefolgt. Die Deutschen hätten weder ihn noch die anderen Täter dazu gezwungen,
merkte Gross an. Der traditionelle Antisemitismus weiter Bevölkerungskreise in
Polen sei explosionsartig ausgebrochen. Schuld trage letztlich die ganze
Bevölkerung von Jedwabne.
Das Buch von Gross, erschienen in einem
kleinen Provinzverlag, aufgemacht wie ein harmloses Belletristikbändchen, löste
einen heftigen Disput in der polnischen Presse aus. Denn es suggeriert nichts
anderes, als dass Polen das Geschäft der deutschen Nazis besorgt hätten, dass
sie Mittäter des Holocaust gewesen seien. Gross stellt sich in den Augen rechter
Publizisten in eine Reihe mit dem in Frankreich lebenden Historiker Claude
Lanzmann, der vor anderthalb Jahrzehnten mit seiner Interviewsammlung unter dem
Titel "Shoah" den polnischen Antisemitismus während des Zweiten Weltkriegs
illustriert hatte, sowie mit dem Krakauer Literaturwissenschaftler Jan Blonski,
der Ende der achtziger Jahre die These vertreten hatte, die katholischen Polen
hätten zu wenig zur Rettung der jüdischen Mitbürger getan. Kommentatoren der
rechten Presse schrieben, dass Gross selbst Warschauer Jude sei, also in der
Sache kaum objektiv berichten könne. Wieder wurde das Klischee von den
amerikanischen Medien bemüht, die von Juden beherrscht würden und die ständig
die Polen als Antisemiten darstellten. Dass die katholische Elite Polens selbst
auf der Todesliste der Nazis ganz oben stand, werde von den amerikanischen Juden
übersehen.
In der Tat geht das Buch von Gross weit
über eine Dokumentation hinaus, die Anmerkungen und Schlussfolgerungen des
Autors zu den Augenzeugenberichten sind überaus emotional geschrieben. Ein
Kommentator ausgerechnet der liberalen Gazeta Wyborcza, zu deren leitenden
Redakteuren prominente Vertreter der jüdischen Gemeinde Warschaus gehören,
befand gar, Gross benutze die "Kriegssprache der Nazis".
International renommierte polnische
Holocaust-Forscher, die eher dem liberalen Lager zuzurechnen sind, übten
ebenfalls Kritik an Gross, allen voran Professor Tomasz Szarota, Mitglied der
Akademie der Wissenschaften und Autor zahlreicher Bücher, von denen einige auf
Deutsch erschienen sind. Aber auch diese Gruppe von Kritikern hat keinen Zweifel
an der Hauptaussage des Buchs von Gross: Katholische Polen haben wohl weit mehr
als tausend ihrer jüdischen Mitbürger in den Kriegswirren zu Beginn der Aktion
"Barbarossa", des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, ermordet. Jedwabne
sei somit ein Fanal. "Es zwingt uns zu einer nationalen Gewissenserforschung",
schrieben viele Kommentatoren.
In diesem Sinne habe Gross ein "überaus
wichtiges Buch" geschrieben, befand Szarota. Doch weise es grundsätzliche Mängel
auf. Für die Polen geht es vor allem um die Frage, welche Rolle an jenem 10.
Juli die Deutschen gespielt haben. War wirklich nur eine kleine Gruppe von
Gestapo-Leuten an diesem Tag in Jedwabne, wie Gross den Dokumenten zu entnehmen
glaubt? Oder waren zwei Polizeibataillone dorthin gekommen, wie ein
pensionierter polnischer Staatsanwalt behauptet, der in den sechziger Jahren mit
der Untersuchung von Nazi-Verbrechen befasst war?
Diese Fragen sind für den Fall von
zentraler Bedeutung, ihre Beantwortung wäre nicht nur wichtig für die Polen,
sondern auch für die deutschen Leser. Das in der Tat in diesem Punkt lückenhafte
Buch soll nämlich bald auch auf Deutsch erscheinen. Denn natürlich macht es
einen Unterschied, ob die "Einwohnerschaft von Jedwabne", wie Gross schreibt,
aus freien Stücken die Juden in die Scheune getrieben hat oder ob deutsche
Uniformierte mit Maschinenpistolen dabei zugegen waren.
Die überlieferten Berichte dazu sind
widersprüchlich. Nur bei einem - nicht unwesentlichen Detail - gibt es
Übereinstimmung: Deutsche haben an jenem Tag in Jedwabne gefilmt. Auch an
anderen Orten haben Kameramänner im Dienste Joseph Goebbels' in dem 1941 von der
Wehrmacht besetzten Gebiet zwischen Ostsee und Schwarzem Meer Übergriffe der
einheimischen Bevölkerung - Litauer, Polen, Ukrainer - auf ihre jüdischen
Nachbarn gefilmt. Die Schreckensszenen sollten in den "Wochenschauen" den
Kinobesuchern im Reich klarmachen, warum es notwendig sei, "Schutzzonen für die
Juden" - Ghettos - einzurichten.
Die Filmaufnahmen von Jedwabne wurden
bislang nicht gefunden. Sie könnten möglicherweise einige der offenen Fragen
beantworten. Auch gibt es vermutlich schriftliche Dokumente dazu; doch Gross
habe sie nicht gesucht, sagen seine Kritiker. Er habe nicht in die noch
vorhandenen Kriegstagebücher der Nazi-Truppen geschaut. Und er habe nicht in die
"Chroniken der laufenden Ereignisse" gesehen, die von den polnischen
Widerstandsorganisationen damals sehr detailliert geführt wurden.
Vor allem aber werfen die Kritiker Gross
vor, dass er die Vorgeschichte des Pogroms von Jedwabne kaum ausgeleuchtet habe.
War es nur sich animalisch entladender Antisemitismus, wie er in der
Vorkriegszeit auch von der polnischen Regierung und sogar der katholischen
Kirche geschürt worden war? Oder gab es auch das Motiv der Rache, wie einige
Berichte zu belegen scheinen? Offenbar haben manche Juden von Jedwabne 1939 den
Einmarsch der Roten Armee begrüßt und in den Monaten danach auch mit den
sowjetischen Besatzungsbehörden zusammengearbeitet - und somit genau dem
Klischee von der "Judenkommune" entsprochen.
Rache als Motiv
Gründe dafür gab es reichlich: Das
sowjetische Regime versprach ihnen das Ende der Diskriminierung, die sie im
Polen der Zwischenkriegszeit erfahren hatten. Der sowjetische Geheimdienst NKWD
verhaftete damals auch in Jedwabne Dutzende von Polen, ein Teil von ihnen wurde
nach Sibirien verschleppt, einige kamen in der Haft zu Tode, wurden
offensichtlich gefoltert und ermordet. Dazu gehörte auch eine junge Frau. Ihre
Brüder wurden wenige Wochen nach der Beerdigung der geschundenen Leiche zu
Haupttätern, wie aus den Prozessunterlagen von 1949 hervorgeht. Sie zwangen mit
anderen jungen Polen die Juden von Jedwabne, das von den sowjetischen Besatzern
aufgestellte Lenin-Denkmal um den Marktplatz zu tragen und dabei ein
kommunistisches Lied zu singen. Bei Gross finden sich indes kein Hinweis auf
diese Zusammenhänge, die, wie die polnischen Historiker betonen, den Pogrom
nicht rechtfertigen, aber zumindest teilweise erklären.
In einem Punkt aber sind sich die meisten
Publizisten einig: "Jedwabne ist ein schwarzer Fleck in der Geschichte Polens."
Daran ändere auch die Tatsache nichts, dass das Verbrechen nur möglich war, weil
die deutschen Besatzer den gewaltbereiten Teil der polnischen Bevölkerung dazu
aufgestachelt haben.
haGalil onLine
20-02-2001
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