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Paris, 22. Januar – Der älteste Häftling Frankreichs hatte die neunzig schon
überschritten. Er war gut versorgt in seiner Verbannung, die durchaus
komfortabel zu nennen war. Beim Urteil war er 89 gewesen, er war hinfällig, wenn
auch nicht eigentlich krank, nur eben sehr alt. Deshalb setzten sich führende
Männer des Staates dafür ein, den alten Mann freizulassen. Doch der starb als
Gefangener im gesegneten Alter von 95 Jahren. Dieser ranghöchste Gefangene des
Staates war der Marschall Philippe Pétain, der schon als alter Mann an die
Spitze des besiegten Frankreichs gerückt war und in Vichy eine Regierung
installiert hatte, die sich den Deutschen unterwarf.
Nun sitzt wieder so ein Alter im Gefängnis, verurteilt mit 89 Jahren, und wieder
geht in Frankreich die Diskussion, ob man ihn frei lassen sollte.
Maurice Papon, inzwischen 90 Jahre alt und heute der älteste Häftling des
Landes, war 1998 in Bordeaux wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu zehn
Jahren Gefängnis verurteilt worden. In der Gironde als Generalsekretär der
Präfektur in Bordeaux war Papon während der deutschen Okkupation bei der
Deportation der Juden behilflich gewesen. Dass nun der hochbetagte Mann seine
Strafe tatsächlich absitzen soll, das ist nach Ansicht seines Anwalts
unmenschlich. Maître Jean-Marc Varaut hat den Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte in Straßburg angerufen, der an diesem Dienstag darüber
entscheiden soll, ob Papon eine "erniedrigende und unmenschliche Behandlung"
erdulden muss, die gegen europäisches Recht verstößt. Der Pariser Häftling mit
der Nummer 887758 gehöre nicht nur freigelassen, er verlange auch eine Million
Francs Schmerzensgeld. Zweimal schon hat Staatspräsident Jacques Chirac, der
einzige, der ihn begnadigen kann, die Gesuche Papons abgelehnt.
Der Beamte Maurice Papon hatte seinem Staate immer treu gedient. Als Pétain nach
der Niederlage die Republik abgeschafft und einen Etat francais ausgerufen
hatte, kollaborierte Papon mit den Deutschen im besetzten Teil Frankreichs.
Wegen seiner Mittäterschaft an den Juden-Deportationen ist er in Bordeaux
verurteilt worden. Er selbst hat sich immer als einen gesehen, der Schlimmeres
verhütet habe, ja als ein Mann der Résistance. Es sei manchmal schwerer
auszuharren als zu fliehen, sagte der uneinsichtige alte Mann und erinnerte an
den deutschen Dirigenten Wilhelm Furtwängler, der auch in Deutschland geblieben
sei. Papon fühlt sich bis heute im Recht. Einflussreiche Freunde
Er hatte es auch im Nachkriegs-Frankreich weit gebracht, dekoriert mit dem
Ritterkreuz der Ehrenlegion. Dass er Polizeichef von Paris wurde, darunter haben
zwei Jahrzehnte nach den Ereignissen in Bordeaux nicht Juden, sondern Algerier
gelitten. Im nächsten Oktober ist der 40. Jahrestag des Massakers von Paris, als
während des Algerienkriegs Papons Polizisten Dutzende von Algeriern
niederschossen oder in die Seine warfen. Auch dieses dunkle Kapitel ist noch
nicht aufgearbeitet, Papon jedenfalls hat es nie geschadet. Als Budget-Minister
erreichte seine Karriere ihren Höhepunkt. Er hatte immer einflussreiche Freunde.
Nun aber setzen sich erstmals Gegner für ihn ein. "Fantastisch!" rief Anwalt
Varaut aus, als sich einer der angesehensten Politiker für die Freilassung des
ältesten Häftlings Frankreichs aussprach. "Er ist ein Greis. Ihn in seinem Alter
weiter im Gefängnis zu halten, ist nicht mehr angemessen", sagte Robert
Badinter, ein früherer Justizminister und Präsident des Verfassungsrats. "Man
spricht von den Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sollte aber nicht die
Menschlichkeit über das Verbrechen siegen?" Badinter ist eine moralische
Institution im Lande, er hatte Mitterrands Wahlversprechen durchgesetzt, die
Todesstrafe abgeschafft. Einen gewichtigeren Fürsprecher kann Papon kaum finden.
Papon war einer der klassischen Schreibtischtäter, ohne die das System nicht
funktioniert hätte. Ihm ist nie vorgeworfen worden, selbst gefoltert zu haben.
Anders als der berüchtigte Klaus Barbie, der auch Badinters Vater festgenommen
hatte. Aber die meisten französischen Juden waren von der Vichy-Administration
erfasst worden. Oft wurden sie nicht von Deutschen, sondern von der
französischen Polizei festgenommen, und der Verwaltungsapparat wurde in den
Präfekturen in Gang gehalten. In der Präfektur Bordeaux erstellte Papon jene
Listen, nach denen die Deportationen ausgeführt wurden; auf einer solchen Liste
zu stehen, war ein Todesurteil.
Doch der Mann ist unfähig zur Reue, nie hat er sie auch nur ansatzweise erkennen
lassen. Joseph Sitruk, Großrabbiner von Frankreich, erinnert sich, wie er selbst
als Zeuge in Bordeaux aufgetreten ist. "Ich habe mich der Bank des Maurice Papon
zugewandt, wie ein Mensch sich seinem Bruder zuwendet, und habe gehofft, in dem
Gesicht ein Zeichen von Reue wahrzunehmen. " Da sei aber nichts gewesen, niemals
habe Papon jemanden um Verzeihung gebeten. Andere Rabbiner plädieren für Gnade,
auch einstige Widerstandskämpfer sehen keinen Sinn mehr darin, einen alten Mann
eingesperrt zu lassen.
Die Schuld von Vichy
Bei den Politikern gibt es alle Meinungen. Parlamentspräsident Raymond Forni ist
"angesichts der Verbrechen des Maurice Papon" rigoros gegen eine Freilassung,
während Justizministerin Marylise Lebranchu die Debatte als zu emotional
empfindet: "Ich kann jede Position nachvollziehen. " Für den Historiker und
Vichy-Experten Henry Rousso ist Badinters Forderung nur dann logisch, wenn man
sie als Schlusspunkt sieht. Doch dafür sei es noch zu früh, die Frage nach der
Schuld von Vichy sei mit dem Papon-Prozess nicht beantwortet. Für Rousso ist
Papon zum Symbol für Vichy geworden. Und selbst wenn diese Debatte politisch und
juristisch erledigt wäre, die Erinnerungs-Arbeit an Vichy ist noch lange nicht
abgeschlossen.
Schon gar nicht für die Angehörigen der Opfer. Serge Klarsfeld, Präsident der
Vereinigung der Töchter und Söhne der Deportierten, ist deshalb dagegen, den
Greis freizulassen. "Was wäre der Effekt auf die Nachkommen der Opfer, wenn
Papon seinen hundertsten Geburtstag in Freiheit feierte?" Natürlich ist Papon,
der inzwischen einen Herzschrittmacher trägt, in der VIP-Etage im zweiten Stock
des Pariser Gefängnisses La Sant‚ medizinisch bestens versorgt. Neulich auf dem
Gefängnisflur – denn man bewegt sich frei zwischen den Zellen – traf
Jean-Christophe Mitterrand auf den alten Mann. Der Präsidentensohn, der wegen
einer Finanzaffäre vorübergehend in Untersuchungshaft war, fand einen
hinfälligen Alten, der sich mühsam fortbewegte.
Auch das Gefängnis La Sant war eine Stätte der Kollaboration. "Hinter diesen
Mauern" heißt es auf einer Gedenktafel an der dicken Mauer, "sind während der
Besetzung achtzehn Widerstandskämpfer von französischen Beamten im Auftrag des
Feindes erschossen worden".
haGalil onLine
24-01-2001
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