(SZ) Stehen Religiosität und
Geldverdienen im Widerspruch? Nein, sagt Paul Chaim
Eisenberg. Er ist Oberrabiner der israelitischen
Kultusgemeinden von Österrreich. Im Judentum ist es völlig
akzeptiert, wenn jemand auf ehrliche Weise reich wird. Bedürftige
jedoch haben das Recht auf Beistand der Gesellschaft.
SZ: Herr
Oberrabiner, passen Religion und Geldverdienen zusammen?
Eisenberg:
Die jüdische Religion verurteilt es keineswegs, wenn die Menschen
durch fleißige Arbeit ihren Unterhalt verdienen. Und auch nicht,
wenn sie noch mehr darüber hinaus verdienen. Allerdings wird gesagt:
Wenn jemand wohlhabend ist, dann soll er einen Teil seines
Wohlstands für soziale Zwecke geben, damit auch der nicht so
glückliche Teil der Menschen etwas davon hat.
SZ: Im Alten
Testament gibt es viele sehr präzise Vorschriften, die eine
regelrechte Umverteilung zu Gunsten der Armen vorsehen.
Eisenberg:
Diese Vorschriften kann man nicht mehr so wörtlich nehmen, wie sie
in der Bibel stehen, denn die haben alle irgendwie mit
Landwirtschaft zu tun. So musste man gefallene Ähren liegen lassen.
Die Ecken des Feldes durfte man überhaupt nicht abernten. Die
standen den Bedürftigen zu. Damit sind nicht nur die Armen gemeint,
sondern auch Witwen, Waisen und besonders Fremde. Bei den Fremden
ist die Bibel sehr sensibel, weil sie weiß, dass sie oft nicht ihren
Unterhalt selbst verdienen können. Die Juden waren ja auch
Fremdlinge in Ägypten. Arme, Witwen, Waisen und Fremde haben das
Recht, auf die Felder zu gehen und sich die Ähren jederzeit zu
holen, ohne Bittsteller zu sein. Der, der hat, und zwar nicht nur
der Millionär, ist aufgerufen, mit anderen zu teilen.
SZ: Und was
bedeutet das heute?
Eisenberg:
Das Wort Zedakah, was auf hebräisch „Unterstützung für Arme“
bedeutet, stammt von Zedek ab, und das heißt „Gerechtigkeit“.
Es gibt zwei Formen der Almosentätigkeit. Das eine ist Zedakah,
die Wiederherstellung des Rechts: Wer zu wenig zum Leben hat, dem
muss man ganz einfach helfen. Dann gibt es einen zweiten Begriff:
Barmherzigkeit, die geht darüber hinaus.
Dazu gibt es eine Geschichte:
Zu einem Rabbi kommt eine arme Frau und erzählt ihm ihr Schicksal.
Er gibt ihr Geld und dann, nachdem sie ihn schon verlassen hat,
läuft er ihr nach und gibt ihr nochmals etwas. Und als sie ihn
fragt, warum er ihr denn zweimal helfe, antwortet ihr der Rabbi: Das
erste Mal, da hatte ich so viel Erbarmen in meinem Herzen, dass ich
Ihnen das Geld aus Barmherzigkeit gegeben habe. Dabei habe ich ganz
vergessen, dass ich es Ihnen ja aus Verpflichtung hätte geben
müssen.
SZ: Wenn zu Ihnen
ein Unternehmer kommt und Sie um ethische Maßstäbe für sein Tun
bittet, was antworten Sie ?
Eisenberg:
Nach der Bibel soll man unrecht erworbenes Geld nicht für gute
Zwecke verwenden. Das ist vielleicht etwas idealistisch. Aber wenn
jemand einen Teil des Geldes, das er ergaunert hat, für gute Zwecke
spenden will, dann ist das sicher nicht im jüdischen Sinne. Ehe wir
Geld weitergeben, müssen wir daran denken, wie wir es verdient
haben. Es gibt sogar Anweisungen dafür, wem man bevorzugt spenden
sollte. Zum Beispiel sollten die Armen der eigenen Stadt zunächst
bedacht werden. Es hilft nicht viel, wenn man sein ganzes Geld nach
Afrika schickt und dabei übersieht, wie es um einen herum aussieht.
Die Armen der eigenen Stadt haben einen gewissen Vorrang; außerdem
sollen, das ergibt sich aus der Geschichte, besonders die
Bedürftigen in Israel bedacht werden.
SZ: Es gibt eine
lange Tradition des jüdischen Mäzenatentums. Salomon, der Onkel von
Heinrich Heine, hat das Israelitische Krankenhaus in Hamburg
gestiftet. Ist diese Tradition noch lebendig?
Eisenberg:
Es entspricht tatsächlich alter Tradition, nicht nur einzelne zu
bedenken, sondern Institutionen – Krankenhäuser, Universitäten
Thoraschulen. Insgesamt kann man schon sagen, dass die Juden im
Verhältnis ihre Taschen offen halten. Vielleicht hat das damit zu
tun, dass das Spenden als Verpflichtung gilt. Lassen Sie mich auch
dazu eine Geschichte erzählen: Ein Rabbi war zum Frühstück bei einem
reichen Mann eingeladen und sah, dass dieser nur trockenes Brot und
einen Hering aß. Du musst künftig richtig frühstücken, sagte der
Rabbi daraufhin, mit Weißbrot und Eiern. Sonst denkst du, die Armen
bräuchten noch weniger als Schwarzbrot und Heringe. Und dann
spendest du zu wenig. Das heißt: Wenn einer zu sich selbst knauserig
ist, dann ist er es auch zu anderen.
SZ: Eine Stelle in
der Bibel, die Ökonomen immer irritiert, ist das Zinsverbot. Wie kam
es in die Bibel und was soll man heute damit machen?
Eisenberg:
In der Bibel steht das Verbot, weil man fürchtete, dass die Menschen
Wucherzinsen nehmen und dass nicht der den Vorteil hat, der das Geld
braucht. Im Talmud und in anderen Gesetzeswerken hat man versucht,
einige nicht mehr ganz zeitgemäße biblische Vorschriften zwar nicht
aufzuheben, sie aber doch anzupassen. So ist das auch mit den
Zinsen. Religiöse Juden können einen Vertrag schließen, nach dem
ich, wenn ich jemandem Geld borge, nicht Zinsen nehme, sondern
Partner im Geschäft des anderen werde. Dabei spricht er mir einen
gewissen Anteil an seinen Gewinnen zu, und zwar unabhängig davon, ob
das Geschäft tatsächlich Gewinne abwirft. Damit ist man dem Wort
„Zinsen“ ausgewichen. Manche würden sagen: Das ist eine
Rechtsverdrehung...
SZ: ... in der
Tat...
Eisenberg:
... aber es ist ganz einfach notwendig in der heutigen Zeit. Es ist
gar nicht möglich, dass Juden keine Zinsen nehmen, weil sie ja auch
Zinsen geben müssen. Dadurch wird das Gewissen beruhigt und den
Buchstaben des Gesetzes Rechnung getragen.
SZ: Die Wurzeln des
Zinsverbotes sind sozialpolitischer Natur?
Eisenberg:
Es ist ein solidarisches, sozialpolitisches Prinzip; und schon zu
Zeiten der Bibel war es auf das eigene Volk beschränkt. Weil Juden
anderen Menschen Zinsen zahlen müssen, dürfen sie dort auch welche
nehmen. Aber offensichtlich gab es in der jüdischen Geschichte eine
Zeit lang eine Gesellschaft ohne Zinsen. Wie lange das so gegangen
ist, weiß man nicht.
SZ: Kann man denn
den sozialpolitischen Gehalt des Zinsverbotes bewahren, ohne zu
Tricks Zuflucht zu nehmen?
Eisenberg:
Die ökonomische Wirklichkeit ist heute eine ganz andere. Wenn ich
Geld auf einem Sparbuch habe und der Bank somit einen Kredit gebe,
dann ist die Bank nicht der schwache Geschäftspartner, der geschützt
werden muss. Lassen Sie mich hier noch auf einen anderen
Zusammenhang hinweisen: Der Philosoph Maimonides nennt in seinem
Gesetzeswerk acht Stufen der Unterstützung für andere. Die
einfachste Stufe besteht darin, dass man einfach Geld gibt, ohne
sich weiter darum zu kümmern, die höchste Stufe ist es, jemandem zu
ermöglichen, ohne Almosen auszukommen, indem man ihm ein Darlehen
gibt und ermöglicht, ein Geschäft zu machen.
SZ: Handel statt
Hilfe, sagt man heute.
Eisenberg:
Wir wollen jedenfalls das Armsein nicht perpetuieren. Ein Kredit,
der Zinszahlungen nach sich zieht, kann durchaus dazu angetan sein,
jemandem auf die eigenen Beine zu verhelfen.
SZ: Nun gibt es ja
viele traditionsreiche jüdische Bankiersfamilien. Eigentlich
erstaunlich vor diesem Hintergrund.
Eisenberg:
Es war Juden bis zu den Toleranzedikten im späten 18. und 19.
Jahrhundert nicht erlaubt, ein Handwerk auszuüben oder Grund und
Boden als Bauern zu erwerben. Sie wurden in Zünfte nicht
aufgenommen. Es blieb fast nur das Geschäft mit Geld. Gleichzeitig
lebten Juden in allen Ländern. Deshalb hatten sie möglicherweise
bessere internationale Kontakte als andere Menschen. Tatsächlich
waren sie aber auch fleißig und bereit, ein Risiko einzugehen.
SZ: Das Judentum
ist – im Vergleich zum Christentum – sehr diesseitsbezogen. Hat das
eine Rolle gespielt?
Eisenberg:
Das kann schon sein. Diesseitiges ist bei uns nicht pfui: Essen ist
nicht verboten, es gibt nur Vorschriften darüber, was man essen darf
und was nicht. Sex ist nicht verboten, er ist auch nichts Böses,
aber nicht mit jedem und nicht immer. Und so wird auch
Wirtschaftstreiben und Geldverdienen nicht als etwas grundsätzlich
Böses gesehen.
SZ: Viele Ökonomen
fasziniert der Gedanke des Bundes Gottes mit dem Volk Israel. Dieser
Bund ist im Kern ein Vertrag, zu dem man Ja oder Nein sagen konnte.
Macht diese Tradition die Juden besonders offen für die
Marktwirtschaft?
Eisenberg:
So wie Sie es formulieren, halte ich den Gedanken für etwas
übertrieben. Aber es ist zum Beispiel so, dass wir bei
Eheschließungen schon seit Tausenden von Jahren Verträge kennen. Was
man heute so modern einen Ehevertrag nennt, das gibt es bei den
Juden schon immer. Liebe ist gut, aber klare Regeln sorgen für
Vertrauen. Ich würde daher nicht gerade den Vertrag von Gott mit dem
jüdischen Volk nehmen, aber das Judentum ist schon vom Talmud her
eine Religion, die sich sehr juristisch versteht.
SZ: Es geht ja um
das Gesetz Gottes.
Eisenberg:
Das Wort Gesetz, das bei Paulus so ein Schimpfwort war, ist bei uns
sicher keines.
SZ: Sie meinen den
Römerbrief: „So halten wir denn dafür, dass der Mensch gerecht werde
durch den Glauben und nicht durch des Gesetzes Werke“. Inwiefern ist
Gesetz da ein Schimpfwort?
Eisenberg:
Es ging Paulus darum. das frühe Christentum zu propagieren, und das
ging leichter mit dem Begriff der Liebe. Dieser Hinweis ist gar
nicht antichristlich gemeint. Nur wurde eben den Juden vorgeworfen,
für sie gelte nur das Gesetz, dabei sei die Liebe doch viel
wichtiger. Das Gesetz kann zu starr sein. Im frühen Christentum
wurde dieser Gegensatz, den es ja nicht wirklich gibt, viel zu sehr
betont. Das Judentum kennt auch den Gedanken der Liebe: „Liebe
deinen Nächsten wie dich selbst – das steht schon im Alten
Testament. Und dass man Gott lieben soll, das steht dort auch. Wenn
Jesus das in der Bergpredigt sagt, dann zitiert er seine jüdische
Bibel. Aber es kann schon sein, dass das Judentum gerade durch den
Talmud eine sehr juristische Gesetzesidee verfolgt.
SZ: Gibt es
Unterschiede zwischen der Nächstenliebe nach dem Alten Testament und
christlicher Barmherzigkeit?
Eisenberg:
Für mich gibt es da keinen Unterschied.
Interview: Nikolaus Piper
Paul Chaim
Eisenberg
(hier bei der diesjährigen Chanukka-Feier am Stephansplatz in Wien)
leitet seit 1983 die israelitische Kultusgemeinde Wien, seit 1988
ist er Oberrabiner von Österreich.
Foto: Robert
Newald
haGalil onLine
23-12-2000
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