SZ vom
02.12.2000 Feuilleton
Nur keinen Ehrenplatz:
Die Rolle der jüdischen Minderheit im
Tempel der Leitkultur
Von Michael
Brenner
Meine früheste Begegnung mit dem, was
deutsche Leitkultur im Rahmen des christlichen Abendlands bedeutet, reicht
dreißig Jahre zurück und datiert von meinem ersten Schultag. Damals wurde
ich vertraut mit dem schönen deutschen Brauch, eine prall mit Süßigkeiten
gefüllte Schultüte leeren zu dürfen. Die Frage, die mich an diesem Tag wohl
am meisten beschäftigte, war: Schokolade oder Bonbons?
Unsere junge Klassenlehrerin in der
bayerischen Provinzstadt freilich brachte mich mit einer ganz anderen Frage in
Verlegenheit. Gleich in der ersten Stunde stellte sie uns vor die eindeutig
formulierte Alternative: "Wer von Euch ist katholisch, wer evangelisch?" Weder
das eine noch das andere kam mir allzu bekannt vor, und so konnte ich mich nicht
recht zwischen den genannten Optionen entscheiden. Nach Hause zurückgekehrt,
lernte ich, dass es außer den genannten Optionen auch noch andere gab und sollte
dies bald im jüdischen Religionsunterricht vertieft erfahren.
Ich blieb während der nächsten 13 Jahre
der einzige jüdische Schüler in meiner Schule, wenngleich ich korrekterweise
anmerken sollte, nicht der einzige Jude im Klassenzimmer – der andere hing wie
in jeder guten bayerischen Schule selbstverständlich am Kreuz vor unser aller
Augen. Während meiner Gymnasialzeit sollten sich bald weitere exotische
Abweichungen von der katholisch-protestantischen Mehrheit in meiner Klasse
dazugesellen, so etwa ein Muslim, dessen Familie aus dem Iran stammte, ein
Neuapostolischer und – gewiss als Exotischster von uns allen – ein Schüler,
hinter dessen Namen im Jahresbericht das Kürzel O.B. auftauchte, was nicht etwa
hieß, dass sein Vater Oberbürgermeister, sondern, dass er ohne
Bekenntnis
war. Da mein eigener Religionsunterricht einmal wöchentlich am Nachmittag in der
Jüdischen Gemeinde stattfand, spielten wir während der Religionsstunde eine Art
multikulturellen Fußball.
Auch wenn es damals noch keine Debatte um
die Leitkultur gab, war doch jedem Angehörigen einer religiösen Minderheit
spätestens dann, wenn er den Blick auf die Wand des Klassenzimmers richtete,
klar, was diese zu bedeuten habe. Noch gab es nicht viele türkische Schüler, und
die Kruzifixdebatte war in weiter Ferne.
Synagoge ja, Moschee nein
In Bayern hat sich daran bis heute ja
trotz ihres eigentlich eindeutigen verfassungsrechtlichen Ausgangs nicht viel
geändert. Im liberalen Stadtstaat Bremen ist die Leitkultur als Leitreligion gar
in der Landesverfassung verankert. Dort heißt es im Artikel 32: „Die
allgemeinbildenden öffentlichen Schulen sind Gemeinschaftsschulen mit
bekenntnismäßig nicht gebundenem Unterricht in Biblischer Geschichte auf
allgemein christlicher Grundlage. “ Diese Klausel galt einmal zu Recht als
besonders fortschrittliche Zusammenfassung des katholischen und protestantischen
Religionsunterrichts. Doch müsste man eine solche Passage nicht an die erheblich
veränderte Realität anpassen, um auch anderen Religionsgemeinschaften einen
entsprechenden Unterricht zu gewähren?
Juden waren lange Zeit die einzige
nichtchristliche Minderheit in Deutschland. Heute hat sich dies geändert. Zum
einen leben Juden in einer faktisch pluralistischen Gesellschaft, sowohl was
ethnische Herkunft, aber auch was religiöse Gruppierungen betrifft. Sie sind
also nicht die einzige Minderheit, mehr noch, sie sind eine kleine Minderheit
selbst unter den Minderheiten. Sie sind, und dies führt uns zur anderen Seite
der Medaille, alles andere als eine normale Minderheit. Nach dem
Holocaust
galt und gilt bis heute eine jüdische Präsenz in Deutschland als nahezu
überlebenswichtig für die deutsche Demokratie. Im Ausland wurden Erfolg oder
Misserfolg der Demokratie in Deutschland nicht zuletzt daran gemessen, ob sich
hier eine, wenn auch noch so kleine, jüdische Gemeinde wieder zu Hause fühlen
kann. Das Verlassen der Juden aus Deutschland hätte unabsehbare Folgen – nicht
für die Juden, sondern für Deutschland.
Es wäre also irreführend, die Behandlung
der jüdischen Minderheit in Deutschland heute als repräsentativ für den Umgang
mit anderen religiösen und ethnischen Minderheiten anzusehen. Antisemitismus ist
glücklicherweise in weiten Kreisen noch immer ein gesellschaftliches Tabu.
Äußerungen und Maßnahmen gegen andere religiöse Minderheiten und gegen Ausländer
sind dagegen leider salonfähiger. Es gab eine Zeit, da konnten Politiker schöne
Worte über ihre jüdischen Mitbürger verlieren und im selben Atemzug vor der
Gefahr einer Überfremdung Deutschlands warnen, ohne entschiedenen Protest des
Zentralrats der Juden erwarten zu müssen. Mancher von ihnen mag sich heute einen
Werner Nachmann zurückwünschen, der als Zentralratsvorsitzender um jeden Preis
seinen Platz im Establishment der Gesellschaft suchte und sogar Politikern nach
dem Mund redete, die wegen ihrer NS-Vergangenheit zurücktreten mussten.
Seit Heinz Galinski und Ignatz Bubis die
Geschicke des Zentralrats übernahmen, hat sich das geändert, und die deutlichen
Worte von Paul Spiegel während der letzten Wochen haben diese Linie noch
deutlicher gemacht. Spiegels Signal war richtig: Politik gegenüber den Juden
lässt sich nicht an Sonntagsreden zum 9. November oder der Woche der
Brüderlichkeit messen, sondern an der gesellschaftlichen Öffnung gegenüber
Minderheiten, Ausländern, "den Anderen". Um zwei Beispiele zu nennen: Eine
Synagoge im Stadtbild kann man sich heute schon vorstellen, aber eine Moschee?
Über jüdische Kultur kann man zum Glück heute an deutschen Universitäten gut
informiert werden, aber wo kann man fundiertes Wissen über türkische Kultur und
Geschichte erwerben?
Die Frage, wie sich die jüdische
Minderheit in der gegenwärtigen Debatte definiert, hat keine einfache Antwort.
Sie könnte es sich leicht machen und auf der Seite der etablierten Gesellschaft
Platz nehmen, quasi die unterbrochene Tradition aus der Zeit vor 1933 im Rahmen
der vielbeschworenen deutsch-jüdischen Symbiose wieder aufgreifen, sich im
Schatten der gern zitierten Einsteins und Rathenaus, Freuds und Zweigs
platzieren. Als Zugeständnis wird dann die Idee vom christlichen Abendland auch
auf das jüdisch-christliche Abendland ausgedehnt. Den Juden wird so zusagen ein
Ehrenplatz im nicht sehr geräumigen Tempel der deutschen Leitkultur angeboten.
Paul Spiegel ließ nun keinen Zweifel daran, dass er den unbequemeren Weg wählt
und sich, wenn es sein muss, gegen diese Art der Etablierung wendet. Die Juden,
so der Kern seines berechtigten Protestes gegen die Formel der Leitkultur, haben
in einer pluralistischen Gesellschaft grundsätzlich besser gelebt als in einer
monolithisch definierten, und sie tun es bis heute – wie jede Minderheit.
Die beiden im Ersten Weltkrieg
untergegangenen Reiche in der Mitte und im Südosten Europas, das Habsburgerreich
und das Osmanische Reich, beherbergten nicht nur sehr große, sondern blühende
und sich relativ frei entfaltende jüdische Gemeinden. Das war nicht zuletzt
möglich, weil sie sich durch keine Leitkultur definieren lassen konnten und
wollten. Unter völlig anderen Voraussetzungen gilt dies heute für die USA, die
die moderne Version eines Vielvölkerreichs bieten, indem sie die zahlreichen
Immigranten ihre eigenen Kulturen ausleben lassen. Für die Vertreter des
europäischen Nationalstaatsgedankens im 19. und 20. Jahrhundert war dies
wesentlich schwieriger, weshalb deren Politik meistens zwischen Assimilation und
Ausgrenzung schwankte. Doch auch in den beiden großen Staaten Westeuropas,
Frankreich und Großbritannien, hat sich aufgrund ihrer kolonialen Vergangenheit
und des stärker ausgeprägten laizistischen Elements ihrer Gesellschaften trotz
mancher Widerstände längst eine multikulturelle und multireligiöse Szene
herausgebildet, von der manche in Deutschland noch träumen und die andere
bereits fürchten. Unbestreitbar ist jedenfalls, dass sie hier im Vergleich zu
anderen westlichen Gesellschaften erst in Ansätzen existiert.
Wir sollten den Initiatoren der
Leitkultur-Debatte dankbar sein. Sie haben uns vor Augen geführt, was mancher
vorher nicht so deutlich gesehen hatte: dass die deutsche Gesellschaft weiterhin
eine sehr stark christlich geprägte, die Diskussion um die Leitkultur daher auch
eine Diskussion um die Leitreligion ist. Man mag sich dazu bekennen und diese
verteidigen. Man kann sie aber auch in Frage stellen und behaupten, in einer
modernen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts müssen auch die christlichen
Religionen stark genug sein, um die symbolische Dominanz im öffentlichen Raum
aufzugeben, wie dies in den meisten westlichen Ländern schon lange der Fall ist.
Der jüdischen Gemeinschaft kommt hier
wegen ihrer besonderen Geschichte und ihres Rechtsstatus eine besondere Aufgabe
zu: sie ist zwar eine der kleinsten, aber die in ihrer Symbolkraft sichtbarste
Minderheit. Als solche kann sie sich für andere Minderheiten und für eine offene
Gesellschaft in besonderer Weise einsetzen. Dass ihre Vertreter dies in letzter
Zeit immer öfter tun, hat unter etablierten Politikern für einige Irritationen
gesorgt. Dies ist gut so.
Denn die Alternative lautet: eine
rückwärts gewandte und von Ängsten vor Überfremdung geprägte Gesellschaft oder
eine offene Gesellschaft, in der in der Tat viele Leitwerte – seien sie nun
Leitkulturen oder Leitreligionen – in ihrer gesamtgesellschaftlichen Relevanz in
Frage gestellt werden. Als oftmals einzige Minderheit haben die Juden die
Funktion gehabt, ihre jeweiligen Gesellschaften ein bisschen bunter und
abwechslungsreicher zu gestalten. Dies hat ihnen Anerkennung und Bewunderung von
den einen, Misstrauen und Hass von den anderen eingebracht. Heute sind sie –
Gott sei Dank – nicht mehr die einzigen in dieser Rolle.
haGalil onLine
04-12-2000 |