|
NEONAZIS,
LEITKULTUR, ZUWANDERUNG:
Das deutsche Trauma
Der von der
CDU angezettelte Streit über "deutsche Leitkultur" vernebelt, dass
wir kein Ausländer-, sondern ein Inländerproblem haben
VON
HANS-ULRICH JÖRGES
DIEWOCHE 46/00, 10. November 2000
Was ist eigentlich los in
diesem Land, was deutsche Wirklichkeit? Haben wir es mit "muslimisch
befreiten Zonen" zu tun, in denen türkische Kahlköpfe die Quartiere
beherrschen - oder mit "national befreiten Zonen", in denen das
Gewaltmonopol des Staates an dumpfdeutsche Schlägertrupps verloren
gegangen ist? Werden Deutsche von Ausländern auf offener Straße
zusammengetreten und zu Tode gehetzt - oder Ausländer von Meuten
rasender Kulturträger des reinen Germanentums? Gilt es, Ausländer zum
Eid auf Verfassung und Rechtsordnung aufzurufen - oder muss Recht und
Gesetz wieder gegen Deutsche Geltung verschafft werden? Zugespitzt
formuliert: Wem müssen heute Toleranz und die freiheitliche deutsche
Werteordnung beigebracht werden: Ausländern oder Deutschen? Noch
einfacher ausgedrückt: Haben wir heute ein Ausländer- oder ein
Inländerproblem?
Wer die Debatten der vergangenen
Wochen verfolgt hat, das Ringen um NPD-Verbot und rechtsextreme Gewalt
auf der einen, den Streit um die Unterwerfung der Zuwanderer unter eine
"deutsche Leitkultur" auf der anderen Seite, der mag zunächst erstaunt,
dann amüsiert und später vielleicht empört gewesen sein. Jetzt aber, da
der Verbotsantrag gegen die NPD beschlossene Sache ist und die
politische Klasse am Jahrestag der Pogromnacht in der Hauptstadt zum
Widerstand gegen den braunen Mob aufgerufen hat, zugleich aber die
"Leitkultur" in der Programmatik der CDU verankert ist und sich die
Parteispitze wegen des öffentlichen Tumults zufrieden die Hände reibt -
jetzt ist Alarmstimmung angezeigt. Und Anlass zum Nachdenken über die
Frage, ob die Berliner Republik erstmals dabei ist, außer Tritt zu
geraten. Ob das Maß an Verantwortung, demokratischer Fundierung und
historischer Lernfähigkeit, das der vereinten Nation vor zehn Jahren
zugesprochen wurde, nicht ein Trugschluss war. Mit einem Wort: ob der
deutsche Wahn wieder um sich greift.
Denn wie dünn ist der Firnis über
dem deutschen Trauma, wie leichtfertig das Spiel mit dem Feuer, wie
irrlichternd der Wettstreit um das Deutscheste im Deutschen, den die CDU
mit ihrer lustvoll ins Volk geworfenen Vokabel entfesselt hat. Ginge es
allein um die sachliche Klärung der Frage, welche Anforderungen
Immigranten zu erfüllen haben, die Parteien wären sich längst - und
geräuschlos - einig: deutsche Sprachkenntnisse, Achtung vor der
politischen wie der Rechtsordnung. Aber darum geht es ja nicht. Nicht
einmal um die taktische Überlegung, das grundsätzliche Ja der Union zur
Zuwanderung hinter dem Qualm der "Leitkultur"-Debatte zu verbergen.
Die Führungsfiguren der CDU, der
erstmals erfolgreich dilettierende Fraktionschef Friedrich Merz und die
zunächst zaudernde, dann opportunistisch zupackende Parteichefin Angela
Merkel, räumen es strahlend in naiver Freimütigkeit ein: Die "deutsche
Leitkultur" hat sich als Geschenk des Himmels erwiesen, um die Union -
Steuern und Rente sind perdu - endlich wieder in die Offensive zu
bringen und selbst kritische Geister nachhaltig zu verwirren. Wie
wetteifern sie seither, die roten Spießer der PDS und die bodenlos
opportunistischen Grünen, wer sein Vaterland am innigsten liebt! In dem
Stimmengewirr sind plötzlich sogar handfeste Ressentiments von links zu
vernehmen: Ihre Frauen dürften "die Ausländer" halt nicht mehr schlagen
und ihre Töchter nicht beschneiden. Ach ja, das tun die hier alles?
Die Union hingegen, bei den
Initiativen gegen rassistische Gewalt ins Hintertreffen geraten, spreizt
wieder ihren rechten Flügel, besänftigt die Deutschnationalen und
sammelt rechtsaußen ein. Selten hat eine politische Kampagne das Klima
so rasant verändert und unterst zuoberst gekehrt. Es dürfte nur eine
Frage der Zeit sein, bis die "Leitkultur" erstmals rechtfertigend in
einem Neonazi-Prozess auftaucht.
Der gut gemeinte, aber zu kurz
gedachte "Aufstand der Anständigen" gegen den Rechtsextremismus wirkt
auf solcher Bühne noch ritueller, als er ohnehin ist. Die Lage ist so
kompliziert wie bedrohlich. Der in seiner Wirkung fragwürdige
Verbotsantrag gegen die NPD hebt das Problem symbolisch auf die Ebene
eines Staatsnotstands - der zweifellos nicht zu erkennen ist. Dennoch
breiten sich rassistische Gewalt, Unverschämtheit und Gedankenlosigkeit
wie Knochenfraß in der Gesellschaft aus - unten wie oben. Im Streit um
die Berliner Opernhäuser etwa kursierte in höchsten Kreisen das Wort vom
Ende der "Juderei"; im sächsischen Neukirchen wurde in einer früheren
Brikettfabrik, die ein Fitness-Center mit dem
germanisch-programmatischen Namen "Walhalla" beherbergt, eine
Nazi-Wandmalerei mit Fahnenträgern von SA und HJ aus Mitteln des
Denkmalschutzes restauriert.
Und überall paradieren und
prügeln die Glatzen. Im Osten, so der Kriminologe Christian Pfeiffer,
ist das Risiko für Ausländer, "angefallen, verletzt oder gar getötet zu
werden", 20-mal höher als im Bundesdurchschnitt, in
Mecklenburg-Vorpommern gar 40-mal. Und bei fast einem Drittel der
Bevölkerung treffe dies auf "passive Zustimmung". Es ist die Quittung
für jene Ignoranz, welche die Politik seit einem Jahrzehnt gegenüber den
sozialen Verwüstungen der deutschen Einheit an den Tag legt. Der Westen
hat Milliarden in die ostdeutsche Infrastruktur geschaufelt - in die
Menschen wurde nichts investiert.
Mit "Zeichen setzen" allein in
Berlin ist es nicht getan. Rasche Hilfen für Schulen und Polizei, für
Sozial- und Jugendarbeit sind unabdingbar. Christian Pfeiffer schlägt
vor, jährlich 50 bis 100 Millionen Mark in die Hand zu nehmen, um
jeweils 5000 bis 10.000 Jugendlichen aus Ostdeutschland einen
Auslandsaufenthalt zu finanzieren - und damit Toleranz und Weltoffenheit
zu importieren. Der Berliner Politologe Hajo Funke fordert für Jugend-
und Sozialarbeit eine Stiftung, dotiert mit einer runden Milliarde. Das
Thema ist es wert, in Berlin zur "Chefsache" zu werden. Wenn dem Kanzler
dabei noch ein Ost-Beauftragter zur Seite stünde, der den Namen
verdient, und ein Kulturminister, der sich der Unkultur annimmt, wäre
viel gewonnen.
Das Zuwanderungsgesetz? Lasst die
Finger davon bis nach der Wahl! Mit dieser CDU ist das Thema - trotz
geradliniger Menschen wie des Saarländers Peter Müller - vor 2002 nicht
zu regeln. Die Union kennt nur noch eine Leitkultur: Wahlkampf.
© DIE WOCHE
Zeitungsverlag 2000
|