taz: Herr Reemtsma, Sie
haben seinerzeit erklärt, auf die Ergebnisse der historischen
Kommission zur Wehrmachtsausstellung warten zu wollen, ehe über die
Frage "Reparatur oder Neukonzeption" entschieden wird. Jetzt haben
Sie zeitgleich mit dem Kommissionsgutachten eine neue Konzeption
vorgelegt. War die Arbeit der Kommission also nur Staffage, waren
die Würfel längst gefallen?
Jan Philipp Reemtsma: Die Frage, in welcher Weise die Ausstellung bearbeitet
werden würde, konnte sich nur zum Teil auf den Bericht der Kommission beziehen.
Auftrag an die Kommission waren die Überprüfung der Materialien und bestimmte
Fragen ihrer Präsentation. Die Mitglieder der Kommission haben großen Wert auf
die Feststellung gelegt, dass die Frage "Überarbeitung oder Neukonzeption" von
ihnen nicht zu beantworten sei. Zweitens: Bei der Beantwortung dieser Frage ist
wesentlich mehr zu berücksichtigen als das, worüber sich die Kommission Gedanken
gemacht hat. Als ich das Ausstellungsmoratorium bekannt gemacht habe, betonte
ich gleichzeitig, dass die zeitweilige Schließung der Ausstellung auch die
Chance beinhaltet, sich das ganze Unternehmen noch mal grundsätzlich durch den
Kopf gehen zu lassen.
Zwei Beispiele für das, was nicht die Kommission, wohl aber wir neu bedenken
mussten: Soll man auf das Stilmittel unkommentierter Bildsequenzen verzichten
oder nicht? Und die von vielen Besuchern der Ausstellung gestellte Frage: Was
meint ihr eigentlich, wenn ihr von Wehrmachtsverbrechen sprecht? Geht es um das
Verständnis von 1995, das der Nürnberger Prozesse oder das von 1941?
Sie haben sich in Ihrem Statement zur Neukonzeption gleichwohl eng an das
Gutachten angelehnt.
Nur in dessen erstem Teil. Im zweiten Teil legen wir die Überlegungen dar, die
während der Arbeit der Kommission im Hause angestellt wurden. Unser neues
Konzept ist, wenn Sie so wollen, deduktiver. Wenn man sich mit der Frage von
Krieg, Völkerrecht und Kriegsrecht beschäftigen will, dann muss man zu einer
neuen Einteilung der Ausstellung kommen, die sich an verschiedenen
Verbrechenstypen orientiert. Dann aber werden neue Arbeitsfelder deutlich, die
bearbeitet werden konnten, bevor der Abschlussbericht der Kommission vorlag.
Also die Hungerpolitik, die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen -
Themen, die weit über die alte Ausstellung hinausreichen.
Sie sprachen von der Notwendigkeit, den in der Ausstellung gezeigten
Wehrmachtsverbrechen eine stärkere Tiefenstruktur zu geben. Heißt das zum
Beispiel, dass Sie anlässlich der Morde in Zloczow, Lemberg und dem östlichen
Galizien auch die vorhergegangenen Mordaktionen des sowjetischen NKWD und die
ihnen folgenden Pogrome der Bevölkerung an den Juden mit einbeziehen werden?
Muss man nicht zeitlich wie örtlich diese gesamte Zone des Schreckens in
Betracht ziehen?
Wo es zum Tatgeschehen gehört, dass die Morde des NKWD zur Legitimierung der
deutschen Verbrechen gedient haben, sollte man das darstellen, ohne vergessen zu
machen, dass der Vernichtungskrieg nicht Ergebnis solcher vorhergehenden
Ereignisse gewesen ist. Es sind nicht alle deutschen Soldaten, die Verbrechen
begangen haben, durch das Nadelöhr dieser Ereignisse, nämlich das Erlebnis
vorhergehender sowjetischer Mordtaten, gegangen. Es handelt sich um einen
Vernichtungskrieg, in dem der Massenmord zur Kriegsplanung gehörte. Gleichwohl
sollte die neue Ausstellung die Interdependenz von Intentionalität und
situativer Dynamik darstellen.
Ich hatte den Eindruck, der Kommissionsbericht hatte eine negative Haltung zu
den emotionalen Wirkungen, die die Ausstellung hervorrief und in deren Umfeld
sie spielte, also der Linie vom Holocaust-Fernsehspiel der 70er- bis zu
"Schindlers Liste" der 90er-Jahre.
Ich habe den Kommissionsbericht nicht so gelesen. Das Argument war, dass die
öffentliche Diskussion immer durch relativ popularisierende Medien entfacht
worden ist und nicht durch die Studien der Fachhistoriker.
Sie rechnen die Wehrmachtsausstellung dem Genre der popularisierenden Medien zu?
Jede Ausstellung gehört diesem Gentre an.
Wie sehen Sie heute Ihre eigene Rolle beim Zustandekommen der Fehler? Was hätte
man nach dem damaligen Wissens- und Erkenntnisstand anders machen müssen?
Die Frage beantwortet sich aus meinen Schlussfolgerungen. Künftig muss sich das
neue Team wechselseitig kontrollieren. Das Gleiche gilt für das Verhältnis
Institutsmitarbeiter/Ausstellungsteam. Wichtig auch das Moment der rechtzeitigen
externen Kontrolle. Wir werden die einzelnen, neu konzipierten Ausstellungsräume
jeweils von Fachleuten begutachten lassen.
Sie sprachen davon, dass die künftige Ausstellungskonzeption das Terrain der
Geschichtspolitik verlassen und sich mehr einer historischen Anthropologie
zuwenden sollte. Geschichtspolitik heißt doch Indienstname der Geschichte zur
Durchsetzung aktueller politischer Ziele. Kann die alte Wehrmachtsausstellung
unter diesen Begriff rubriziert werden?
Die Ausstellung war nicht unmittelbar auf die Durchsetzung oder Verhinderung
aktueller politischer Ziele gerichtet. Sie wurde aber zum Gegenstand der
Geschichtspolitik. Denken Sie an die Debatten über die deutsche Wehrmacht, die
von der Ausstellung ausgelöst wurden. Eine Zeitreise zurück in die 50er-Jahre.
Unterstellungen und Gegenunterstellungen schaukelten sich gegenseitig hoch. Das
ist es, was ich mit Geschichtspolitik meine. Wenn gesagt wurde, die Ausstellung
sei dazu da, die Bundeswehr zu denunzieren, dann ist das beispielsweise eine
geschichtspolitische Unterstellung.
Sie wünschen eine Hinwendung der Debatten über den Vernichtungskrieg der
Wehrmacht zur "historischen Anthropologie". Die anthropologische Sicht zielt auf
die Konstanz menschlicher Verhaltensweisen. Liegt in dieser Wende nicht die
Gefahr, dass wir, selbst wenn wir uns auf konkrete, schreckliche Ereignisse des
vergangenen Jahrhunderts beziehen, künftig schlicht vom "Jahrhundert der
Barbarei" sprechen werden? Wird alles zusammengeheftet, eingeebnet?
Lassen Sie mich die nützliche Unterscheidung des englischen Philosophen David
Hume von Geschichtsschreibung einerseits, Philosophie andererseits ins Feld
führen. Geschichtsschreibung konstatiert bei ihm Tatsachen, die Philosophie
nimmt die historischen Fakten als Beispielsfeld, um menschliches Verhalten zu
erklären. Also gehört sowohl das dazu, was über lange Zeiträume konstant bleibt,
Mechanismen, die man immer wieder erkennen kann, als auch das, was sich ändert.
Mich interessieren besonders Einstellungsänderungen zur Gewalt in der Moderne.
Einmal in der frühen Neuzeit, nach dem 30-jährigen Krieg, mit der überragenden
Rolle, die Thomas Hobbes und alle seine Nachfolger der Gewaltbegünstgung
zugeschrieben haben. Dann aber das 20. Jahrhundert. Wie kommt es, dass ein
gewaltarmes Zeitalter - in dem Gewalt noch ausgeübt wird, sie steht aber unter
Rechtfertigungszwang - sich in diese extreme Destruktivität hineinentwickelte?
Dass dieses ursprüngliche Selbstbild zerbrach? Das sind meiner Ansicht nach
keine typischen Fragen der Geschichtswissenschaft.
Was mich beunruhigt, ist eine Art der Geschichtsbetrachtung, wie sie etwa im
"Traktat über die Gewalt" des Historikers Wolfgang Sofsky zum Ausdruck kommt.
Gewaltphänomene werden in einer Art und Weise generalisiert, die alle Katzen in
der Nacht des Schreckens gleich grau aussehen lässt.
Sofsky entfernt sich zu weit von den historischen Einzelfällen zugunsten eines
in sich geschlossenen Systems. Sofsky interessiert sich nicht für die
historischen Phasen, in denen es relativ gewaltarm zuging. Ich teile diese
Auffassung nicht. Warum finden neuzeitliche Menschen, die eben noch zu einer
öffentlichen Hinrichtung strömten, dieses Schauspiel auf einmal als ekelhaft?
Der Pöbel von Paris verjagt den Henker, dem es kurze Zeit vorher noch gebannt
zuschaute.
Zurück zu dem, was über lange Zeit konstant bleibt. Eine Gruppe wird verfolgt,
die verfolgende Gruppe unterstellt Vergeltungsgelüste der Verfolgten. Jetzt
werden die Verfolgten stigmatisiert, man heftet ihnen erbliche Eigenschaften an.
Das geschieht von den Kreuzzügen über die Zwangsbekehrungen der Juden nach der
spanischen Reconquista bis zum Rassismus des 19. Jahrhunderts. Warum greifen
solche Mechanismen, und: Wann greifen sie nicht mehr? Ich will noch einmal die
methodische Frage an Hand eines Beispiels erläutern. Wenn ich die Kamera weit
zurückfahre, sehr ich große Bewegungen, aber nicht mehr die Aktionen einzelner
Menschen. Ich sehe Bewegungsströme. Wenn Sie die Kamera ganz dicht heranfahren,
sehen Sie nur Gesichter, keine Strukturen.
Wie wärs mit der Halbtotale, wie bei Fußballübertragungen?
Auch die gibt nur einen Ausschnitt wieder. Keine Perspektive kann das eine und
das andere gleichzeitig. Man muss beides tun.
taz 27.11.2000
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30-11-2000
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