Paul Spiegel:
Bitte schauen Sie nicht weg!
Aus der Rede am 09-11-2000 in
Berlin
"Wehret den Anfängen" heißt es
oft, wenn es um den Kampf gegen Rechtsextremismus geht. Doch wir sind
längst über dieses Stadium hinaus. Was wir fast täglich erleben, hat
nichts mehr mit "Anfängen" zu tun. Wir befinden uns bereits mittendrin
im Kampf gegen Rechts. Bundeskanzler Schröder forderte vor einigen
Wochen einen "Aufstand der Anständigen", er forderte mehr Zivilcourage –
aber was bedeutet das konkret und für den Einzelnen? Was kann und muss
jeder von uns tun?
Ich bin überzeugt, dass die
Mehrheit in diesem Land Rechtsradikalismus, Antisemitismus und
Fremdenfeindlichkeit ablehnt. Aber diese Mehrheit darf nicht länger
schweigen, sie darf nicht länger wegschauen, sie darf nicht länger die
Vorgänge in unserem Land verharmlosen. Das Deutschland des Jahres 2000
ist nicht das Deutschland des Jahres 1938. Die "Berliner Republik" ist
nicht die "Weimarer Republik". Aber wird dieser Staat in zehn Jahren
immer noch eine demokratische, eine offene, eine liberale Republik sein,
wie es die "Bonner Republik" war?
Juden in Deutschland haben trotz
all der schrecklichen Vorkommnisse in den letzten Wochen Vertrauen in
dieses Land, zu den verantwortlichen Politikern und zu seinen Bewohnern.
Unsere Eltern haben sich nach dem schrecklichen Leiden trotz der
weltweit verbreiteten Meinung entschlossen, hier wieder zu leben und
jüdische Gemeinden zu gründen. Wir sind nach wie vor der festen
Überzeugung, dass dieser Entschluss richtig und wichtig war. Wir wollen
und dürfen nicht Hitler und seinen Mitverbrechern im Nachhinein zum
Erfolg verhelfen, Deutschland judenrein zu machen. Wir brauchen aber
deutliche Signale, dass die nichtjüdische Bevölkerung in ihrer Mehrheit
uns und unsere jüdischen Gemeinden in diesem Lande haben wollen.
Wir erinnern uns an die
Ereignisse am Abend des 9. November 1938, als die Nazis ihrem Hass auf
die Juden für alle sichtbar freien Lauf ließen. Es war eine staatlich
gesteuerte Aktion, die sich auf offener Straße abspielte, und das
deutsche Volk wurde Zeuge, wie die Menschenrechte und die Menschenwürde
im wahrsten Sinne des Wortes mit Füßen getreten wurden. Unter den
Gaffern waren jubelnde und johlende Zeugen, andere haben schweigend oder
gleichgültig hingenommen, was geschah. Die Juden wurden in dieser Nacht
nahezu allein gelassen. Bis auf wenige Ausnahmen, darunter mutige
Kirchenmänner wie Bernhard Lichtenberg, hat kaum jemand seinen Unmut,
sein Entsetzen öffentlich zum Ausdruck gebracht. Mir ist bis heute
unerklärlich, wie die nicht-jüdische Bevölkerung nach dieser Nacht in
ihrem normalen Alltag weiterleben konnte.
Nur wenige sind Helden. Nur
wenige haben den Mut einzugreifen, wenn sie Zeuge werden, wie Skinheads
einen wehrlosen Mann, eine wehrlose Frau und – ja auch das mittlerweile
- wehrlose Kinder auf offener Straße überfallen und zusammenschlagen.
Aber jeder von uns ist in der Lage, die Polizei zu rufen. Und jeder von
uns ist in der Lage, bereits im Kleinen einzuschreiten, in seinem
Lebensumfeld. Wenn am Stammtisch abfällige Witze über Juden, Türken,
Farbige oder Schwule erzählt werden. Wenn am Arbeitsplatz ein Fremder
benachteiligt, schlecht behandelt wird. Reden Sie mit Ihren Freunden und
Arbeitskollegen, wenn sie dies tun! Reden Sie mit dem Betriebsrat und
demonstrieren Sie somit immer wieder Ihre Opposition! Straßen und
Stammtische dürfen nicht dem braunen Pöbel überlassen werden.
[Paul Spiegel -
Gesamtext der Rede]
Was tun
bei NS-Übergriffen?
Verhaltens-Tipps für Notsituationen
In der Münchner
Abendzeitung
vom 11.08.2000, gab Manuela Klose vom Münchner Polizeikommissariat
einige Verhaltens-Tipps für den Notfall.
Zwei Männer entreißen einer Frau
die Handtasche. Laufe ich ihnen hinterher? In der U-Bahn wird ein junges
Mädchen von Jugendlichen bedrängt. Schreite ich ein? Wie verhalte ich
mich, wenn ich Zeuge einer Notsituation werde? Manuela Klose vom
Münchner Polizeikommissariat 314 gibt Verhaltens-Tipps.
1: Spielen Sie nicht den Helden,
bringen Sie sich nicht selbst in Gefahr. Erscheint Ihnen die Situation
gefährlich, bleiben Sie in sicherer Distanz. Häufig reicht es schon,
wenn der Täter mitbekommt, dass er genau beobachtet wird.
2. Je mehr Menschen an einem
Tatort versammelt sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass
niemand hilft. Ein Phänomen, doch jeder glaubt vom anderen, dass der
schon etwas unternehmen werde. Ergreifen Sie die Initiative. Machen Sie
Passanten oder andere Fahrgäste auf die Notsituation aufmerksam.
Verbünden Sie sich mit ihnen, fordern Sie sie direkt zur Mithilfe auf.
"Sie in der roten Jacke. Das Mädchen da vorne braucht unsere Hilfe.
Helfen Sie mir bitte."
3. Beobachten Sie genau, merken
Sie sich den Täter. Was hatte er an? Wie hat er gesprochen? Wohin ist er
gelaufen? Steigt der Täter in ein Auto, notieren Sie sich das
Kennzeichen. Das alles sind wichtige Hinweise, die der Polizei helfen,
den Täter zu schnappen.
4. Rufen Sie um Hilfe. Die Stimme
ist eine Waffe, die man überall dabei hat. Das irritiert den Täter.
Häufig wurden Täter allein durch Schreie aufmerksamer Passanten in die
Flucht geschlagen. Ein Tipp: Der Hilferuf "Feuer" ist manchmal
geeigneter, Mitmenschen aufmerksam zu machen. Rufen Sie sofort die
Polizei. Sagen Sie, was genau passiert und wo es passiert ist. Legen Sie
nicht gleich wieder auf. Warten Sie auf eventuelle Rückfragen der
Polizei.
5. Kümmern Sie sich um das Opfer.
Für sie dauert es oft Ewigkeiten, bis die Polizei oder die Feuerwehr am
Tatort ist. Leisten Sie Erste Hilfe, oder, wenn Sie sich darin nicht
sicher fühlen, seelischen Beistand.
6. Stellen Sie sich als Zeuge zur
Verfügung. Um Täter zu bestrafen, braucht es Zeugen. Auch wenn es viele
Menschen gibt, die das Geschehene beobachtet haben, melden Sie sich bei
der Polizei. Ihre Aussage kann entscheidend sein.
7. Helfen Sie unbedingt. Auch
wenn es Sie Zeit, Mühe und Überwindung kostet. Es könnte sein, dass auch
Sie einmal Hilfe von anderen Menschen benötigen.
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