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Der blutige Preis, den wir, die arabischen Bürger
Israels, zahlen mussten, weil wir uns mit unseren Brüdern in den
Palästinensergebieten solidarisch erklärt haben, zeigt erneut, dass
wir in den Augen des israelischen Establishments und eines Teils der
jüdischen Gesellschaft dieses Landes - das auch das unsere ist -
keine vollwertigen Bürger sind, sondern Fremde, ja schlimmer noch:
Feinde.
Die brutale Repression der letzten Tage war noch
grausamer als am berühmten "Tag der Erde", am 30. März 1976. Nach
dieser schrecklichen Erfahrung kann jeder von uns wieder sagen:
"Mein Land, mein Staat, tötet mein Volk, tötet mich."(1)
Mit diesen Worten beschreibt der palästinensische Dichter Mohammed Hamzeh
Ghanayem, israelischer Bürger der arabischen Stadt Baka al-Garbiyeh im
nördlichen Zipfel Israels, die blutigen Unruhen der ersten Oktoberwoche des
Jahres 2000, die zwölf israelische Araber das Leben kosteten. Sie starben an
den Geschossen (aus Plastik, Blei oder Stahl, wie es in den
Autopsieberichten heißt) der israelischen Sicherheitskräfte oder gar
jüdischer Gewalttäter, die am 8. Oktober, in der Jom-Kippur-Nacht (dem
jüdischen Fest der großen Vergebung), in Nazareth ein Pogrom organisierten.
Alles beginnt am 28. September, mit dem Besuch des Likud-Chefs Ariel Scharon
auf dem Jerusalemer Tempelberg (Haram al-Scharif). Bei den Zusammenstößen
zwischen palästinensischen Demonstranten und israelischen Soldaten gibt es
zwar Verletzte, aber keine Toten. Am nächsten Tag jedoch kommen sieben
Palästinenser ums Leben. Am 30. September ruft das Hohe Arabische Komitee in
Israel die arabische Bevölkerung des Landes für Sonntag, den 1. Oktober, zum
Generalstreik und zu Demonstrationen auf - als Ausdruck der Empörung über
das Gemetzel vom Vortag und ihrer Entschlossenheit, den arabischen Charakter
von Ostjerusalem und die Heiligkeit des Haram al-Scharif zu wahren.
Der Streik am 1. Oktober wird fast vollständig durchgehalten, die
Demonstrationen fallen überwiegend kämpferisch aus. Wo die Sicherheitskräfte
nicht eingreifen, gibt es auch keine Zwischenfälle. Nur da, wo sie mit
brutaler Gewalt vorgehen - besonders in den Städten und Dörfern, die dem
Polizeigeneral von Nordisrael, Alik Ron, unterstehen -, provozieren sie
Straßenschlachten, die weitere Opfer fordern. Daraufhin ruft das Hohe
Arabische Komitee zur Fortsetzung des Generalstreiks und der Kundgebungen
auf, zu denen es auch anlässlich der Beerdigung der ersten Opfer kommt. Am
1., 2. und 3. Oktober werden zehn Tote und Hunderte von Verletzten gezählt.
Ehud Barak und seine Regierung - insbesondere die als "Tauben" geltenden
Minister Schlomo Ben-Ami, der für die Polizei verantwortlich ist, und
Innenminister Haïm Ramon - decken das Verhalten der Sicherheitskräfte mit
der Behauptung, die Demonstranten hätten an manchen Orten die
Hauptverkehrsadern blockiert. Alle drei beteiligen sich in den Medien an der
regelrechten Hetzkampagne gegen die Araber, wodurch sie in den Augen der
arabischen Bevölkerung, aber auch mancher jüdischer Bürger Israels, jede
Glaubwürdigkeit verlieren.
Die israelische Regierung hat uns den Krieg erklärt", sagt Doktor Hanna
Schweid, Sekretariatsmitglied des Hohen Arabischen Komitees und
Bürgermeister der Gemeinde Eilabun in Galiläa. "Diese blutige Ernte zeigt,
dass die Regierung Barak keinen Unterscheid mehr zwischen den
palästinensischen Bevölkerungen diesseits und jenseits der grünen Linie(2
)macht. Sie allein trägt die Verantwortung für die Eskalation. Die Reaktion
der arabischen Bürger Israels ist nur natürlich: Wir wollten unsere
nationale palästinensische Identität bekunden. Wir können das Schicksal
unserer ermordeten Brüder nicht gleichgültig hinnehmen und die versuchten
Übergriffe auf die heiligen Stätten des Islam in Jerusalem nicht
unbeantwortet lassen. Aber der Generalstreik und die Demonstrationen waren
auch Ausdruck unserer angestauten Frustrationen und unserer Enttäuschung
über die Regierung Barak, die wir gewählt haben und die nichts getan hat,
weder für den Frieden noch für die Gleichheit aller Bürger - man muss sich
nur unsere Arbeitslosenquote ansehen!"
Hanna Schweid ist christlichen Glaubens, Scheich Raed Salah dagegen, der
Bürgermeister von Um el-Faham, steht an der Spitze des radikalen Flügels der
islamischen Bewegung. Auch er erhebt Vorwürfe gegen die Machthaber: "Mit dem
massiven Einsatz ihrer Sicherheitskräfte wollten sie Angst und Schrecken in
unsere Herzen tragen, das Leben unserer Söhne und unserer Töchter bedrohen.
Ihre Botschaft war klar: Solange ihr den Bau von Schulen oder Straßen
fordert, ist alles in Ordnung. Wenn ihr aber Respekt vor der Aksa-Moschee
oder vor den Rechten der Araber in der Altstadt von Jerusalem verlangt, seid
ihr Extremisten und gefährdet die Sicherheit des Staates."
Abed Anabtawi, Sprecher des Hohen Arabischen Komitees, stellt ausdrücklich
klar: "Wir haben unsere radikale Ablehnung der israelischen
Regierungspolitik zum Ausdruck gebracht, aber unser Protest war nicht gegen
die Juden in Israel gerichtet." Der Abgeordnete Azmi Bischara, Führer der
nationaldemokratischen Union, begreift die Zusammenstöße als eine
"Intifada": Dies sei "eine Erhebung gegen jeden Versuch einer Israelisierung
der in Israel lebenden palästinensisch-arabischen Massen, eine Erhebung zur
Bewahrung ihrer nationalen Identität. Mehr denn je wollen sie als eine
nationale Minderheit innerhalb des Staates gelten."(3) Für Azmi Bischara
führen Politik und Praxis der Barak-Regierung "geradewegs in ein
Apartheidsregime".
Nach dem 4. Oktober beruhigt sich die Lage in den arabischen Ballungsgebieten
Israels allmählich. Die Lehre aus den Ereignissen besteht - unter anderem -
darin, dass sich hier keine arabische Gruppierung zur führenden politischen
Kraft aufschwingen konnte, vor allem nicht bei der Jugend. Manche
zwielichtigen Elemente - also schlicht Randalierer - haben sich unter die
Demonstranten gemischt und den Zorn über die repressive Gewalt als
Deckmantel für Vandalismus benutzt. In Nazareth haben sie zum Beispiel eine
Bank angezündet, ein großes Restaurant zerstört und eine Apotheke
geplündert. All diese Aktionen wurden von den Sprechern der Stadt Nazareth
wie vom Organ des radikalen Flügels der islamischen Bewegung verurteilt.(4)
Nach und nach kehrt die Bevölkerung ins Alltagsleben zurück, auch wenn sie
weiterhin ihre Toten beweint und um ihre Zukunft bangt. "Diese blutigen
Ereignisse haben uns um ein halbes Jahrhundert zurückgeworfen", klagt Salam
Habibi, der Sohn des großen Schriftstellers und Politikers Emile Habibi.
"Die Herrschenden und ein Teil der israelischen Gesellschaft haben uns zu
verstehen gegeben, dass sie uns nicht für vollwertige Bürger halten: 52
Jahre nach der Gründung des Staates Israel sind wir immer noch Feinde, die
es zu vernichten gilt."
Die neue jüdische Siedlung Nazareth Illit liegt auf den Höhen oberhalb der
alten arabischen Stadt Nazareth. Am 7. Oktober, einem Samstag, fällt ein
starker jüdischer Schlägertrupp über die arabischen Einwohner des östlichen
und ärmsten Viertels der Altstadt her. Am nächsten Abend rücken erneut
Hunderte solcher Gewalttäter an, diesmal aus Nazareth Illit und aus
Tiberias. Trotz Jom Kippur - am heiligsten Fest und Fastentag der jüdischen
Religion ist jede körperliche Tätigkeit verboten - legen sie das Viertel in
Schutt und Asche. Während die Bewohner sich aus eigener Kraft zu verteidigen
versuchen, hoffen sie auf das Eintreffen der Polizei.
Aber diese Hoffnung erweist sich als Illusion. Nach Aussagen von Ramez
Jerayssi, Vertreter der Demokratischen Front und Bürgermeister der größten
arabischen Stadt Israels, genießen die Anführer des Pogroms zumindest eine
Zeitlang den Schutz der Sicherheitskräfte: Diese schießen auf die arabischen
Einwohner, anfangs mit Tränengasgranaten, dann mit Plastik- und Blei- oder
Stahlgeschossen. Im Lauf der Nacht werden zwei Araber tödlich und zahlreiche
andere schwer verletzt. Zweimal telefoniert der Bürgermeister mit dem
verantwortlichen Polizeiminister, damit dieser den Sicherheitskräften den
Befehl gibt, das Schießen einzustellen. Aber Schlomo Ben-Ami will nicht
zugeben, dass seine Männer mit Hartgummi- und Metallgeschossen feuern. "Was
kann man da machen?", sagt Bürgermeister Jerayssi. "In den Autopsieberichten
heißt es, die Opfer wurden durch Blei- und Stahlgeschosse getötet. Die
jüdischen Gewalttäter dagegen wurden von der Polizei mit Samthandschuhen
angefasst."
Wegen der vorgeschriebenen Jom-Kippur-Pause berichten die israelischen Medien
erst am Abend des 11. Oktober über das Pogrom von Nazareth. Aber der Premier
und sein Polizeiminister schreiben die Schuld zu gleichen Teilen den Tätern
und ihren arabischen Opfern zu. Der Präsident der Regierungskommission für
die arabische Bevölkerung, Exgeneral Matan Vilnaï, sagt hingegen unverblümt:
"Jüdische Hooligans sind in Nazareth über die Araber hergefallen wie früher
in Europa die Antisemiten über die Juden." Und der Gerichtsreporter Mosche
Negbi scheibt in der Tageszeitung Yediot Aharonot: "Die Pogrome der letzten
Woche haben den Eindruck verstärkt, dass unsere Polizei eine Rassenpolizei
geworden ist, die ausschließlich der Verteidigung der Juden dient:
Todesschüsse wurden nur auf arabische Unruhestifter abgegeben."(5)
Was die Pogrome anbelangt, so ist Nazareth kein Einzelfall. Vor, während und
nach dem Jom-Kippur-Fest hat es, wie die Regionalpresse berichtet, in
verschiedenen Städten Ausschreitungen jüdischer Aufrührer gegen die Araber
gegeben, Autos wurden in Brand gesteckt und Geschäfte verwüstet.(6) Nach den
Krawallen von Bat-Yam (einem südlichen Vorort von Tel-Aviv), bei denen zwei
arabische Passanten erstochen und Polizeiautos zerstört wurden, titelte die
lokale Wochenzeitschrift: "Pogrom".(7) Wegen der heftigen Zusammenstöße
zwischen Juden und Arabern in Jaffa beurteilt die dortige Lokalpresse die
Lage als "explosiv".(8)
Niemand hier geht ernsthaft davon aus, dass die Gewaltausbrüche eine spontante
Sache sind. Die Führer der rechten Parteien gießen Öl ins Feuer, indem sie
die arabischen Städte und Dörfer als eine "fünfte Kolonne" darstellen. Ihre
Sprecher haben die Pogrome zwar offiziell verurteilt, sie aber zugleich am
10. und 11. Oktober im Fernsehen als "verständliche Reaktion besorgter
Juden" gerechtfertigt, die erschrocken seien "über den Aufruhr der
israelischen Araber, die sich mit den Palästinensern aus dem Westjordanland
und dem Gazastreifen solidarisiert haben". Scharon und seine Freunde hatten
nichts anderes im Sinn, als Barak die Hände zu binden, um bald in seine
Regierung zurückzukehren und dem Friedensprozess ein Ende setzen.
Angesichts der Gefahr, dass der israelisch-palästinensische Konflikt zu einem
Religionskrieg werden könnte, regt sich Widerstand. Zwei islamische
Organisationen in Israel etwa verurteilten den Angriff auf das Josefsgrab in
Nablus als Vandalismus, fügten allerdings hinzu, auch ein muslimischer
Scheich namens Yussef Dwiqat sei dort begraben. Der Abgeordnete Bischara hat
die palästinensische Führung aufgefordert, das Grab wieder aufzubauen und
den jüdischen Rabbinern den Besuch des Ortes zu erlauben. Doch auch andere
Heiligtümer wurden verwüstet und in Brand gesteckt - muslimische in Israel
(u. a. in Tiberias und Jaffa), jüdische im Westjordanland (in Jericho).
Das Pogrom von Nazareth hat viele Menschen aufgerüttelt. Seither erscheinen in
der Presse immer mehr Petitionen, die das Vorgehen der Sicherheitskräfte und
die rassistischen und faschistischen Strömungen verurteilen. Einzeln oder in
Gruppen besuchen Juden die Familien der israelisch-arabischen Opfer, die
Verwundeten oder die überfallenen Gemeinden. Zum Laubhüttenfest haben manche
Juden als Zeichen der Solidarität in arabischen Städten Hütten gebaut. All
dies sind Gesten eines ersten Bemühens, das durch die blutigen Ereignisse
vom Oktober zerrissene Netz der jüdisch-arabischen Beziehungen wieder zu
reparieren.
dt. Grete Osterwald
Fußnoten:
(1) Alle nicht anders ausgewiesenen Zitate sind Gesprächen entnommen, die der
Autor für Le Monde diplomatique oder für die Tageszeitung Haaretz geführt
hat.
(2) Die "grüne Linie" ist die Waffe
(3 )Fasl al-Maqal, Nazareth, 13. Oktober 2000.
(4) Saout al Haq wa al-Houriya (Stimme der Gerechtigkeit und Freiheit), Uum
al-Fahm, 13. Oktober 2000.
(5 )13. Oktober 2000.
(6) Hed Haqrayot, Kiryat-Ata, 13. Oktober 2000.
(7) Bat-Yam, 13. Oktober 2000.
(8) Tel Aviv, 13. Oktober 2000.
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14-11-2000
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