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"Eine Harmonie in
Grün", so nannte der renommierte Berliner Kunst- und
Architekturkritiker Max Osborn das Bild "Die Besinnung" der Malerin
Julie Wolfthorn. Es ist eines der Bilder, die im neuen
Jahreswandkalender des Berliner Lichtig-Verlages für das jüdische
Jahr 5761 gezeigt werden.
Neben weiteren Bildern
von Julie Wolfthorn hat Nea Weissberg-Bob, die Herausgeberin des
Kalenders, auch Abbildungen von Werken der Künstler Rudolf Ernst,
Gregor Rabinovitsch und Lene Schneider-Kainer in den sorgsam
gearbeiteten Kalenderblättern zusammengestellt. Ein verbindendes
Motiv vieler der im Kalender vorgestellten Werke ist das
Selbstporträt, die Selbstreflexion des Künstlers.
So z.B. bei einer Strichzeichnung von Gregor Rabinovitsch (1884 - 1954),
zugleich Titelbild des Kalenders. Auf einer Grußkarte porträtiert sich der bei
St. Petersburg geborene Rabinovitsch, wie er in einen Klappspiegel blickt. In
den Spiegelreflexionen zeigt er dann seine anderen Gesichter. Eine Kurzbiografie
über Rabinovitsch ist wie jene der anderen Künstler eingangs des Kalenders
untergebracht. Dort weist Nea Weissberg-Bob daraufhin, dass er sich in der
Schweiz, wohin er bei Beginn des ersten Weltkrieges emigriert war, mit seinen am
Expressionismus orientierten Lithographien, Holzschnitten, Aquarellen und
Radierungen unter den dortigen Dada-Künstlern einen Namen machte. Bekannt wurde
Rabinovitsch, der seit 1915 in Zürich lebte, auch durch seine zahlreichen
Porträts von Emigranten und Illustrationen von Werken von Robert Walser, Thomas
Mann oder Albert Ehrenstein. Seit 1922 war er Karikaturist der Satirezeitschrift
"Der Nebelspalter" tätig. Nach 1945 verlieh ihm die Schweiz die Ehrung "Gewissen
der Schweiz".
Zum Auftakt des Kalenders, gleichsam auch als Aufforderung zur inneren Sammlung
für das neue Jahr, wird das Bild "Die Besinnung" von Julie Wolfthorn (1864 -
1944) gezeigt. Wir sehen eine Frau am Schabbat. Sie sitzt an einem Tisch, den
Kopf auf den linken Arm gestützt, mit Challe, Challedecke, Kidduschbecher,
Schabbatkerze und Gebetbuch. Die Malerin zeigt uns eine nach innen gekehrte
Frau, vertieft in Gedanken, in Besinnung. Hier entwarf Julie Wolfthorn das Bild
einer gesetzestreuen und emanzipierten Jüdin. So, wie sich die assimilierte
Jüdin Julie Wolfthorn möglicherweise auch ein Stück weit selbst gerne gesehen
hätte: aufgehoben und einen Halt findend.
In Berlin, wo die Künstlerin bis zur Deportation nach Theresienstadt 1942
lebte, hatte sie eine Ausbildung als Malerin und Grafikerin absolviert. Im
Kurzporträt zeigt Beate Spitzmüller, daß Julie Wolfthorn die von Max Liebermann
geleitete "Berliner Secession" mitbegründete, als eine von wenigen Frauen. In
ihrem Atelier förderte Julie Wolfthorn insbesondere junge Künstlerinnen. Nicht
zuletzt deshalb, weil die akademische Ausbildung bis 1918 allein Männern
vorbehalten war. Auch in verschiedenen anderen Organisationen, denen Julie
Wolfthorn angehörte, setzte sie sich besonders für Frauen ein. Bilder von Frauen
waren denn auch ein zentrales Motiv ihres künstlerischen Schaffens, wie es auch
die weiteren von ihr gezeigten Bilder verdeutlichen. Heute wird sie
wiederentdeckt. Ihr Werk wird durch eine kleine Ausstellung im November dieses
Jahres in Berlin gewürdigt. Nach der Machtübernahme der Nazis konnte sie kaum
noch ausstellen. Das Bild "Die Besinnung" wurde 1935 im Wettbewerb "Wie findet
die jüdische Frau in die heutige Zeit" der Künstlerselbsthilfe der Jüdischen
Gemeinde zu Berlin ausgezeichnet.
Julie Wolfthorn wurde am 28. Oktober 1942 mit dem 68. Alterstransport von
Berlin nach Theresienstadt deportiert. Dort malte sie weiter. Der Kalender zeigt
auch ihr Bild "Die Rekonvaleszentin", das 1943 entstand. Ein Selbstporträt. Sie
sitzt auf einem Krankenstuhl, eingehüllt in eine Decke, die Arme über dem Bauch
verschränkt. Ihre müden Augen drücken aber weniger den Blick einer Genesenden
aus, sondern vielmehr Verzweiflung, Erschöpfung und Angst. Indem sie sich selbst
spiegelt, spiegelt sie auch das Getto dem von der NS-Propaganda entworfenen Bild
von Theresienstadt entgegen.
Portraits, aber auch Landschafts- oder religiöse Motive standen im Mittelpunkt
der Arbeiten des Münchner Malers Rudolf Ernst (1896 - 1942). Prof. Louis
Robert-Lippl, der dem Künstler auch persönlich verbunden ist, hebt in seiner
Schilderung des Lebenslaufes von Rudolf Ernst auch die einzigartigen 100
Holzschnitte mit Bibelmotiven hervor, die Ernst anfertigte. Ein im Kalender
abgedrucktes Bibelmotiv zeigt Jakob und Rachel. Ein ebenfalls von ihm gezeigtes
Frauenporträt steht stilistisch im Gegensatz zu den anderen Bildern von Frauen
im Kalender. Es verweist zugleich auf seinen Stil: er malte
-plastisch-überzeichnend- eine Mamsell mit Fuchs und Schirm, fast wie eine
freche Kinderzeichnung. Hier aber wohl als kecke Satire auf das in den zwanziger
Jahren geprägte herrschende moderne Frauenbild gemeint.
1932 fand in München die erste große Ausstellung mit den Werken von Rudolf
Ernst statt, aber auch seine künstlerische Karriere wird nach 1933 jäh gestoppt.
1939 geht Ernst mit seiner Familie und seinem Bruder Hugo nach Zagreb. Als sie
1942 von faschistischen Uschtascha-Agenten aufgegriffen und in der Folgezeit
drangsaliert werden, bringen sich Rudolf und Hugo Ernst mit Gas um.
Ein Porträt von Max Reinhardt ist das erste der im Kalender enthaltenen Bilder
der in Wien geborenen Lene Schneider-Kainer (1885 - 1971), die seit Ende der
20er Jahre in Berlin lebte. Ein zartes, weiches und zugleich etwas
melancholisches Ich zeigt sie in einem Selbstportrait, einer Kohlezeichnung. Im
Kalender wird auch eine Zeichnung aus ihrem Zyklus erotischer Illustrationen
"Die Hetärengespräche des Lukian" zitiert. Nea Weissberg-Bob stellt ihre
verschiedenen Lebensstationen kurz vor: bei Ausbruch des Spanischen
Bürgerkrieges emigrierte Lene Schneider-Kainer 1937 von Ibiza, wo sie seit 1933
lebte, nach New York. 1954 übersiedelte sie nach Bolivien, wo sie u.a. das
Kunsthandwerk indianischer Frauen förderte. Als Malerin konnte sie im
amerikanischen Exil nicht mehr an ihren Berliner Erfolg anknüpfen. Ihr fehlte
die vertraute Umgebung, mit der ihr künstlerisches Schaffen eng verknüpft war.
Im Vordergrund stand nun die Sorge um ihre wirtschaftliche Existenz.
In der Festschrift "Berlin 1870-1929. Der Aufstieg zur Weltstadt", die Max
Osborn zum 50jährigen Bestehen des "Vereins Berliner Kaufleute und
Industrieller" 1929 verfaßte, beschwor der Autor die Zukunft Berlins als
europäische "Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten". Wenige Jahre später
emigrierte auch Max Osborn. Heute ist seine uneingelöste Hoffnung eine zentrale
Leitvorstellung in den Reden von Berliner Politikern. "Berlin - offene Stadt",
so der Slogan der Stadtwerbung. Dem Besucher zeigt der Berliner, wenn auch etwas
zögerlich, das neue Gesicht der Stadt. Die vielen an den Krieg erinnernden
baulichen Lücken sind mittlerweile gefüllt. Und dennoch gibt es zwischen den
neuen Repräsentationsbauten eine große Leere. Der Stadt fehlt eine eigene
Vitalität und Potenz. Unbegriffen ist der Verlust, der durch die Verfolgung der
Künstler, Wissenschaftler, Unternehmer und Politiker entstanden ist. Von all
jenen also, die die historische Metropole Berlin entscheidend geprägt haben. Zu
Zeigen, was alles unwiederbringlich zerstört wurde, auch dazu will der seit 1992
erscheinende Jüdische Jahreswandkalender beitragen. Zum neuen Jahr 5761 mit den
überwiegend aus Privatbesitz zusammengetragenen 14 Abbildungen ausgewählter
Werke von Gregor Rabinovitsch, Julie Wolfthorn, Rudolf Ernst und Lene
Schneider-Kainer.
Im Wandkalender sind die Wochenabschnitte der Thora und das Tagesdatum des
Mondkalenders in Hebräisch aufgeführt. Die jüdischen Feste werden im Anhang
näher erläutert. Verzeichnet sind auch die christlichen und weltlichen
Feiertage.
haGalil onLine
26-10-2000
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