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AM Ende des 19. Jahrhunderts
tauchten sie in den USA auf. Nach der verheerenden Wirtschaftskrise standen
Tausende von Arbeitern auf der Straße, und so zogen sie in Scharen von einem
Bundesstaat zum anderen, auf der Suche nach einer Gelegenheitsarbeit. In
seinem Standardwerk "The hobo; the sociology of the homeless man" hielt Nels
Anderson schon 1923 fest, dass dieses nichtbürgerliche Leben in gewisser
Weise die Kultur der Freizügigkeit begründet hatte: Ein Hobo war eben nicht
nur ein Arbeitsloser oder ein Wanderarbeiter, sondern auch ein
Lebenskünstler, ein letzter Vertreter romantischer Ideale.
Der Hobo wurde zum Mythos. Er stand für
die extreme Form des Reisens jenseits des "Durchschnittstourismus". Kein
Wunder, dass sich Abenteurer, aber auch manche Ethnologen, politische
Aktivisten oder Touristen, die sich von der Masse abheben wollen, immer
wieder auf diesen Idealtypus des "wahren" Reisenden berufen. Auf ein
Vorbild, an das wir nicht herankommen, weil uns der Mut fehlt, all die
materiellen und affektiven Bindungen zu lösen, die uns unfrei machen.
Per Anhalter in den USA von Küste zu
Küste reisend, habe ich ein paar Tage lang das Leben, die kargen Mahlzeiten
und den billigen Fusel mit einem der "modernen" Hobos geteilt. Charles zum
Beispiel ist seit fast zehn Jahren auf Achse. Wo ist er aufgewachsen?
"Irgendwo zwischen New York und Boston. So genau weiß ich das nicht mehr.
Heute gibt es für mich nur noch die Straße, Regen, Sonne und Wind." Wenn ein
Wagen am Straßenrand anhielt, dann stellte er nicht die typischen
"Anhalterfragen", sondern sagte einfach: "Guten Tag, wo fahren Sie hin?" Und
als nächstes fragte er: "Glauben Sie, dass es da Arbeit gibt? Können Sie mir
helfen, irgendwas zu finden? Einen Job, er muss nicht gut bezahlt sein ..."
Einige Autofahrer reagierten auf diese Anfragen ziemlich verstört.
DIE Formen nichtsesshaften
Lebens sind durchaus vielfältig. Es gibt Vagabunden und Bettler,
verzweifelte und gescheiterte Existenzen, Aussteiger und Ausgestoßene. Am
schlimmsten ist es, wenn man alles zugleich ist. Die "anständigen Leute"
machten stets einen Unterschied zwischen "echten" und "falschen" Vagabunden:
Wer vom Schicksal geschlagen dennoch bereit war, sich nützlich zu machen,
fand immer noch einen Platz in der Gemeinschaft; allen anderen unterstellte
man, sie wären arbeitsscheue Sonderlinge.
Das Verhalten gegenüber "echten"
Obdachlosen - den heutigenVagabunden - schwankt zwischen religiös geprägtem
Mitleid und gut gemeinter Mildtätigkeit. Dagegen gilt der "falsche"
Obdachlose als ein Trittbrettfahrer des offiziell akzeptierten Elends, dem
bestenfalls Misstrauen, schlimmstenfalls Hass entgegenschlägt. Der "echte"
Obdachlose wird bedauert und unterstützt, der "falsche" verteufelt und
verstoßen. Der eine hofft, wieder sesshaft zu werden, der andere hält es
nirgends lange aus. Und so gilt der vagabundierende Obdachlose stets als
übler Landstreicher, der sich nicht niederlassen und anpassen will.
UNSERE Gesellschaft hält an
einem Begriff des Reisens fest, der an das Prinzip des bezahlten Urlaubs
gebunden ist. Alle anderen Formen, zumal Reisen abseits der ausgetretenen
Pfade, gelten als verdächtig und unschicklich. Vagabundierende Reisende
werden deshalb immer wieder mit Zigeunern verglichen. In einer vollständig
marktorientierten Weltwirtschaft ist das fahrende Volk unerwünscht, während
die Käufer von Reisetickets heiß umworben werden. Wer aber ist ein "echter"
Reisender? Zygmunt Bauman hat treffend festgestellt, dass "die Utopie der
Touristengesellschaft eine Welt ohne Vagabunden ist"(1).( )Die Stelle des
Clochards hat der Obdachlose eingenommen, die Stelle der Armut die
Marginalisierung. Aber die Probleme bleiben - neue Begriffe können die alten
Missstände nicht beseitigen.
JUNGE Leute fliehen aus
abgelegenen ländlichen Gebieten und unbewohnbaren Städten und versuchen,
neue soziale Bindungen zu knüpfen. Die Geschichte dieser "Nomaden der
Leere", wie François Chobeaux sie genannt hat(2),( )ist eine Geschichte der
Flucht aus dem unerträglichen Alltag - hin zu anderen Menschen, die
ebenfalls Not leiden. Diese neuen "Asozialen" erinnern an die Hippies von
einst, aber sie haben weder einen hohen moralischen Anspruch noch einen
langen Atem. Ohne Benzin, ohne Elan und ohne Geld, verkörpern sie das
Gegenteil von Beatnik-Abenteurern. Ihnen widerfahren keine "On the
Road"-Erlebnisse, die zu Literatur werden. Was viele heute als ziellose
Nomaden erleben, hat nichts "Exotisches" oder "Folkloristisches" an sich. Es
ist schlicht ein trauriges, verpfuschtes Leben, ein ständiger
Überlebenskampf, wenn nicht ein Weg in den Tod.
Sicher wäre man lieber Tourist als
Arbeitsloser, dabei könnten beide Rollen durchaus zusammenfallen oder sogar
zu austauschbaren Begriffen werden. Denn die Arbeitssuche kann zu einer
äußerst beschwerlichen Sache werden, für viele gleicht sie schon heute einer
strapaziösen und ergebnislosen Reise. Der Arbeitsplatz scheint eine ferne
leere Insel am Ende der Welt, die nur erreichen kann, wer unerschrocken,
geduldig und kühn ist, wer sich mit exakten Plänen und guter Ausrüstung auf
den Weg macht. Eine solche Expedition verspricht womöglich exotischere
Abenteuer als der immergleiche Urlaubsstress oder der Kampf um einen freien
Platz am Strand.
IM Touristikangebot gibt es
heute auch so genannte Reality Tours, die den Erfolg eines politisch
korrekten Tourismus begründen. Der Reiseveranstalter Global Exchange in San
Francisco ist auf Reisen spezialisiert, die an Orte der Ausbeutung und in
die Konfliktregionen der Welt führen. Im Katalog wird etwa ein Trip durch
kalifornische Jugendstrafanstalten angeboten oder eine Fahrt in die
Hochebene Zentralkaliforniens, um Erdbeerpflücker zu treffen, "die
Hauptleidtragenden des Einsatzes giftiger Pflanzenschutzmittel." Eine
weitere Erkundungsreise führt in den Norden Kaliforniens, "wo die Entwaldung
das ökologische Gleichgewicht bedroht".
Die Lust an der Exotik wird einem
allerdings häufig schon allein dadurch vergällt, dass man nicht der einzige
Tourist ist. Der zweite Tourist ist der Feind des ersten: Wo er auftaucht,
banalisiert er die Welt und ist schuld daran, dass das Reisen immer weniger
Spaß macht.
Es sind freilich nicht die zaghaften
Tendenzen einer Demokratisierung des Reisens, die den Unterschied zwischen
Touristen und Reisenden hinfällig gemacht haben - schuld ist umgekehrt der
Wunsch der Touristen, in die Fußstapfen der Reisenden zu treten! Der Traum
der Touristen von einer Welt ohne Touristen erklärt auch die unübersehbare
Begeisterung, wenn ein "neues" Reiseziel auf den Markt kommt: Gestern Kuba
und Vietnam, heute Laos, Birma und Bhutan, und morgen der Kongo, Nordkorea
oder Afghanistan - warum nicht gleich Osttimor oder das Kosovo?
WIR sollten wieder lernen, nach
Lust und Laune zu flanieren, uns unbeschwert auf das Andere einzulassen,
gelassen unsere Pfade ins Anderswo zu suchen. Es gibt so viele Orte, die
sich entdecken lassen, statt ein ums andere Mal in die Welt auszuschwärmen,
eine Serie von Blitzurlauben hinzulegen, die oft so kurz bemessen sind, dass
man schon die Passkontrolle als Verzögerung empfindet.
In einer Zeit, da der Alltag immer
weniger Sicherheiten bietet, wird Zerstreuung immer mehr mit Vergessen
erkauft. Der moderne Reisende taucht einfach ab, mehr noch, er stellt sich
gegen die mythische Bedeutung des Reisens: Wohin ist er gegangen? Ein Jahr
lang ans Ende der Welt? Oder nur ein paar Straßen weiter, um einen Freund zu
besuchen?
Nie zuvor war die Reise ein derart
künstliches, erfundenes, ausgedachtes Produkt. Früher wusste das ganze
Viertel über die Reiseroute eines Nachbarn bis ins Detail Bescheid, heute
bemerkt man nur noch an den heruntergelassenen Rolläden, dass jemand gerade
unterwegs ist. Der Tourist schleicht sich auf Zehenspitzen davon, zögert,
einen Abreisetermin zu nennen, bleibt bewusst vage, was Termine und Ziele
betrifft.
DIE Reise lockt uns, verstohlen
durch eine Geheimtür zu treten. Zu viel Stress, zu viel Druck von allen
Seiten, zu viel Technik und zu viel Konsum, zu viel Arbeit und zu viel
Arbeitslosigkeit, zu viel Kommunikation und zu viel Einsamkeit: es gibt
einfach zu vieles, das den Sinn des Reisens in Frage stellt.
Immer und überall bedeutet eine
Begegnung auch eine Konfrontation. Gegenüber den militärischen Invasionen
der Geschichte zeichnet sich die viel geschmähte Invasion der Touristen
dadurch aus, dass sie weitgehend friedlich verläuft. Den Konquistadoren,
Missionaren und Kolonialherren früherer Zeiten war diese Tugend nicht zu
Eigen. Der Handel hat den Raub abgelöst. Die Mehrheit der Touristen treibt
nur das Verlangen, die Welt mit dem Auge des Nomaden zu betrachten, und sie
kommen in bester Absicht. Auch wenn sie oft nicht wissen, was sie tun, wenn
sie die weit reichenden Folgen ihres Handelns ignorieren und unterschätzen,
was für tiefe Spuren ihr kurzer Aufenthalt in irgendeinem Dorf am Ende der
Welt hinterlässt.
DIE Welt besuchen, indem man
reist, sollte auch heißen, dass man versucht, die durchquerten Welten zu
verstehen, die soziale Wirklichkeit vor Ort zu begreifen, wenn nicht gar zu
erleben. Es heißt auch, nie zu vergessen, welche Rolle die Geschichte für
die Gegenwart und die Zukunft von Gesellschaften spielt. Eine solche -
unvermeidlich politische - Art des Reisens festigt nicht nur Überzeugungen.
Sie erschließt auch eine neue Wirklichkeit, jedenfalls den Reisenden, die
mit dem Herzen zu hören verstehen.
dt. Edgar Peinelt
Fußnoten:
(1) Vgl. Zygmunt Bauman, "Globalization: the human consequences", Cambridge
(Polity) 1998.
(2) Vgl. François Chobeaux, "Les nomades du vide: des jeunes en errance, de
squats en festivals, de gares en lieux d'accueil", Arles (Actes sud) 1996.
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24-10-2000
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