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Samstag, 7. Oktober 2000 / SZ

Vor dem Notausgang

Warum Paul Spiegel 
keine Ratschläge braucht

Als der Rabbiner Rothschild vor einer Woche in der Synagoge an der Oranienburger Straße zu Berlin die vielen Leute sah, die sich im großen Betsaal drängten, um das Neujahrsfest Rosh Hashana zu feiern, empfahl er ihnen, „heute Abend besonders fest im Glauben zu sein“. „Und wenn Sie es nicht sind“, fuhr er fort, „dann zeige ich Ihnen jetzt vorsichtshalber noch einmal, wo hier die Notausgänge sind. “

Er sagte das mit feinem Spott, es wurde ein fröhlicher Neujahrsabend, und an die Notausgänge dachte keiner mehr. Ein paar Tage später, nach dem Anschlag auf die Synagoge in Düsseldorf, brachte Paul Spiegel, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, die Kraft zum feinen Spott über die jüdische Not in Deutschland nicht auf: Er dachte laut und in bitterem Ernst nach über den Notausgang aus Deutschland, er sprach aus, worüber viele Holocaust-Überlebende immer wieder grübeln: Ist es richtig, hier zu leben, im Land der einstigen Täter? Und dann ist Spiegel selbst vor seinem Pessimismus und seinen Zweifeln erschrocken.

Mehr als fünfzig Jahre sind seit damals vergangen. Hat sich nicht vieles, wenn schon nicht gut, so doch viel besser gefügt, als man es damals erwarten konnte? Damals, Ende der vierziger Jahre, hatte die Jewish Agency noch gedroht, alle Juden, die nicht binnen sechs Wochen Deutschland verließen, später nicht mehr als Juden anzuerkennen. Hat Deutschland sich nicht bemüht in den Jahrzehnten seitdem? Es gab, schon unter Adenauer, „Wiedergutmachung“. Es gibt, Jahr für Jahr, die Wochen der Brüderlichkeit. Synagogen sind restauriert, jüdische Gemeinden neu- und wiedergegründet worden. Christlich-jüdische Gesellschaften sind entstanden, die Politiker schreiben Grußworte zu den jüdischen Feiertagen, und bei den Gedenkfeiern der Republik sitzen die Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in der ersten Reihe.

Adenauers Anschlag auf das deutsch-jüdische Verhältnis liegt lange zurück: Einen wie Hans Globke, der die Nürnberger Rassegesetze kommentiert hatte, würde heute kein Kanzler mehr zu seinem Staatssekretär und Vertrauten machen. Heute eilt, einen Tag nach dem Anschlag auf die Synagoge, Kanzler Schröder nach Düsseldorf, um dort Paul Spiegel zu treffen. „Eine schöne Geste“, konnte man am nächsten Tag in Zeitungskommentaren lesen – eine Geste der Solidarität für Spiegel und die jüdische Minderheit in Deutschland.

Nachfühlendes Entsetzen 

In diesem wohlmeinenden Satz steckt ein kleiner Hinweis darauf, wie es kommt, dass Juden in Deutschland immer noch und immer wieder verzweifeln an ihrem Land: Es wird so getan, als sei der Antisemitismus ein Minderheitenthema, ein Thema also, bei dem es „nur“ um das Verhältnis zu den mittlerweile wieder hunderttausend Juden hierzulande geht. Das ist gefährlich falsch. Der Antisemitismus ist nicht nur Angriff auf eine Minderheit, er ist ein Angriff, der die Gesellschaft insgesamt bedroht. Der Antisemitismus ist so etwas wie der deutsche Primärtumor, und jeder Anschlag – auf Juden, Türken, Flüchtlinge oder Obdachlose – ist eine Metastase. Es geht also nicht nur darum, ein paar als verrückt apostrophierte Täter aus dem Verkehr zu ziehen, den Zentralrat der Juden zu beruhigen und den Schmerz von Herrn Spiegel zu mildern. Es geht nicht nur um Fürsorge für eine kleine Gruppe, der man aus historischen Gründen besonders verpflichtet ist. Es geht darum, eine deutsche Krankheit zu bekämpfen.

Die Erkenntnis klingt einfacher, als sie ist. Auch die Zeitungen waren versucht, dem Mann erst einmal ein gönnerhaftes „Kopf hoch, Spiegel!“ zuzurufen, und dann ein „Jetzt-wollen-wir-mal-nicht-gleich- übertreiben“. Man verbarg solche Anwandlungen freilich hinter den Sätzen des nachfühlenden Entsetzens, die sich eingeschliffen haben. Die Sache in Düsseldorf sei, so hieß es auch, letztendlich und G'tt sei Dank nicht gar so schlimm gewesen, das Feuer sei rechtzeitig ausgetreten worden, und, überhaupt, ein krasser Anstieg antisemitischer Exzesse sei nicht feststellbar; eine gewisse Anzahl sei nun einmal leider, nicht nur in Deutschland, normal.

Wer so argumentiert, hat sich an eine Normalität gewöhnt, die keine Normalität ist: etwa daran, dass jüdische Einrichtungen hierzulande ausschauen müssen wie kleine Festungen und dass tagtäglich jüdische Gräber geschändet werden.

Es handele sich, so heißt es jedes Mal, um Taten einer rechtsextremistischen Minderheit – und diesen Affen dürfe man, freundliche Mahnung an Paul Spiegel, mit defätistischen Äußerungen nicht auch noch Zucker geben. Mit solchem Tadel indes wird klammheimlich den Juden bei künftigen Anschlägen auch noch ein gewisser Schuldanteil daran zugeschoben – nach dem Argumentationsmuster: Wenn Spiegel in Aussicht stellt, dass Juden das Land verlassen, wenn es „so“ weitergeht, dann provoziere er doch, dass es „so“ weitergeht.

Die Mahnung an Spiegel gehört ins Arsenal der Ausreden, mit denen die deutsche Gesellschaft sich seit jeher zu entlasten sucht: Die Juden waren (im Zweifel ihrer Existenz wegen) auch selber Schuld am Antisemitismus. Es gibt viele anderer solcher Ausreden: Zum Beispiel die, dass Wirtschaftsprobleme und Arbeitslosigkeit die Ursache von Rassismus seien. Der Bundeskanzler gebraucht solche Ausreden auch – wenn er über den zunehmenden Neonazismus im deutschen Osten redet.

Wirklich befreit?

Es handelt sich dabei um die Rationalisierungsformeln uralter Vorurteile. In der Schrift „Volksfeindideologie“ der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte aus dem Jahr 1969 wird das anschaulich beschrieben: „Die Fremdgruppe ist kommunistisch infiziert, weist eine überproportionale Kriminalität auf, führt eine parasitäre Lebensweise, verbreitet ansteckende Krankheiten, gefährdet die biologische Substanz eines Volkes und entzieht dem deutschen Volksvermögen ungeheure Summen. “ Versatzstücke daraus kann man in der Asyldebatte und in der Debatte über Sozialmissbrauch finden. Es ist kein Zufall, dass die Klischees, die heute den „Asylmissbrauchern“ angeheftet werden, früher rationalisierte Motivationen des Antisemitismus gebildet haben. Wenn wir vom Rassismus reden, dann reden wir also vom ideologischen Giftmüll, der die Jahrhunderte und das tausendjährige Reich überdauert hat – in der großen Politik und im kleinen Alltag. „Zehn Jahre nach der deutschen Einheit“, hat der Publizist Ralph Giordano gesagt, „ist Hitler geistig immer noch nicht geschlagen“. Im Gegenteil: Um von deutschen Zuständen abzulenken, wird auf die Zustände in Israel verwiesen, auf die Brutalitäten, die Israelis an den Palästinensern verüben.

Die Wiederbegründung jüdischen Lebens in Deutschland nach dem Holocaust war auch ein Vertrauensvorschuss für die deutsche Demokratie. Dieser Vertrauensvorschuss ist nach fünfzig Jahren aufgezehrt – nichts anderes besagt der Pessimismus des Paul Spiegel. Alljährlich, am Jahrestag des Kriegsendes, hört man die gutwillige Behauptung, der 8. Mai sei für die Deutschen ein Tag der Befreiung gewesen. Diese Botschaft haben zu viele offensichtlich noch nicht verstanden.

HERIBERT PRANTL

haGalil onLine 10-10-2000


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