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Flucht nach vorne
Deutsche
Anschläge, Israel
und die neue jüdische Heimatlosigkeit
Heute ist Jom Kippur, der
höchste jüdische Feiertag. Wenn wir Juden heute in der
Synagoge zum Gebet versammelt sind, haben wir vorher einen Kordon von Polizisten
passiert, die aufpassen, dass uns nichts geschieht. Diesmal sind es noch ein
paar Sicherheitsbeamte mehr als sonst, die akute Gefahr für
Juden
in Deutschland scheint größer geworden.
Unsere Isolation in der
Gesellschaft wird damit noch ein wenig deutlicher manifestiert, obwohl wir so
gerne als „jüdische Mit-Bürger“ apostrophiert werden. Nicht nur das – wir sind
sogar eine der „wichtigsten Säulen dieser Zivilgesellschaft“, wie Bundeskanzler
Schröder zuletzt beim Festakt zum 50-jährigen Bestehen des Zentralrats der
Juden
betonte.
Nett, diese pompöse
Aufwertung der Juden, aber auch ein Zeichen für den
wahren Zustand einer Zivilgesellschaft von 80 Millionen Menschen, die angeblich
85 000 Juden als Säule benötigt, um nicht in den Orkus zu
stürzen.
Und schon war Bundeskanzler
Schröder erneut zur Säule der Nation herbeigeeilt: In Düsseldorf traf er sich
mit Zentralratspräsident Paul Spiegel, weil Molotow-Coctails auf eine Synagoge
geworfen worden waren. Und am vergangenen Schabbat kamen Vertreter aller
Parteien aus „Solidarität“ gar in eine Berliner Synagoge zum G'ttesdienst, weil
auch in der Hauptstadt ein jüdisches G'tteshaus angegriffen worden war.
Eine klare Berechnung
Dieses rasche Handeln der
Politiker hätte man sich viel früher gewünscht: gegenüber Ausländern und
Aussiedlern, die seit Jahren angegriffen werden. Als ein Schwarzafrikaner in
Dessau ermordet wurde, war der Bundeskanzler nicht zur Stelle und auch sonst
kein Mitglied der Bundesregierung. Wozu auch? Die Schwarzen haben weder eine
große internationale „Lobby“, noch sind sie durch die Geschichte dieses Landes
eine besonders „wichtige“ Minderheit. Die Juden dagegen
sind hier mittlerweile zu „Fremden“ erster Klasse avanciert. Werden sie
attackiert, reagieren Polizei, Justiz, Regierung und nicht zuletzt die Medien in
einer Weise, die man von ihnen sonst nicht kennt.
Auch bei dem Attentat auf
die Aussiedler in Düsseldorf war man erst richtig alarmiert, als sich
herausstellte, dass sechs von ihnen Juden
sind. Und das liegt wahrlich nicht daran, dass Antisemitismus, wie Heribert
Prantl am Samstag an dieser Stelle richtig schrieb, kein Minderheitenthema sei,
sondern ein Angriff, der die Gesellschaft bedroht. Nein, der Hauptgrund für
diesen Aktionismus dürfte nach wie vor sein, dass das Ausland beruhigt werden
muss, vor allem die USA. Dahinter steht das fatale Kalkül, das typisch ist für
das Deutschland des Jahres 2000: Die Juden haben eine
starke Lobby – beherrscht ihr Einfluss nicht sogar die USA, ja die westliche
Welt? Also müssen sie hofiert werden.
Was das für uns
Juden in Deutschland bedeutet? Wir werden wieder einmal „sonderbehandelt“
und damit in einer Weise ausgegrenzt, wie wir uns das in den letzten zehn
Jahren, spätestens aber seit Ignatz Bubis’ Statement, er sei ein „deutscher
Staatsbürger jüdischen Glaubens“, nicht mehr vorstellen wollten.
Schröders Pressesprecher,
Uwe-Karsten Heye, hatte sich neulich ganz in diesem Sinne an die jüdische
„Säule“ der Nation gewandt. In einer ihm wohl als besonders gewitzt dünkenden
Absicht hatte er den Präsidenten und den Vizepräsidenten des Zentralrats der
Juden, Paul Spiegel und Michel Friedman, zu Verbündeten bei einem neuen
Aktionsbündnis gegen Rechts gemacht. Bei ihrer vielbeachteten Pressekonferenz
waren die drei Initiatoren äußerst bemüht zu erklären, dass sie als deutsche
Bürger handelten, nicht als ein Deutscher und zwei Juden
– womit diese Unterscheidung im Raume stand. Doch Heye wusste durchaus, warum er
nicht den Zentralrat der Muslime in Deutschland dazugebeten hatte, nicht
schwarzafrikanische Organisationen, um mit ihnen gegen die kahlrasierten
Dumpfköpfe zu kämpfen . . .
Diese „Sonderbehandlung“
macht uns nur allzu deutlich, wie wenig wir „hierher“ gehören. Paul Spiegel hat
dies in seiner ersten Reaktion auf den Brandanschlag richtig zum Ausdruck
gebracht. Und es ist ein Jammer, dass er sein starkes, ehrliches Wort zugunsten
diplomatischer Floskeln relativiert hat.
Somit stellt sich für
Juden
in Deutschland heute die Frage: wohin zur Not? Denn zur selben Zeit, in der sie
hier wieder zu Ausländern gemacht werden, wagte es Israel, einen orientalischen
Juden aus dem Iran zum neuen Staatsoberhaupt zu küren –
und nicht den Friedensnobelpreisträger Shimon Peres. Was den Glauben der
westlichen Medien an den angeblich letzten europäischen Außenposten im Nahen
Osten so erschütterte, ist allerdings nichts als die neue Normalität Israels:
Der Judenstaat ist orientalisch, und ein sefardischer Präsident die sehr viel
realistischere Widerspiegelung gesellschaftlicher Tatsachen, als ein
Staatspräsident Peres dies hätte sein können. Auch für viele
Juden in Deutschland war das Wahlergebnis ein Schock, reißt es sie doch
aus ihrer letzten Utopie heraus – dem „rettenden Hafen“ Israel. Und nachdem
jetzt der ehemalige Schas-Minister Arie Deri wegen Betrugs und Veruntreuung
öffentlicher Gelder inhaftiert wurde und die orientalisch-orthodoxe Bürgerschaft
daraufhin zum Widerstand gegen den säkularen Rechtsstaat aufgerufen hat, die
Demokratie des jüdischen Staates also womöglich von innen heraus ernsthaft in
Frage gestellt wird, bleibt den Juden hier nichts, woran
sie sich in dieser labilen Situation festhalten können. Denn die ambivalente
Existenz als Jude im Nachfolgestaat des Dritten Reiches wurde gerne mit einer
allzu übertriebenen Loyalität gegenüber der „eigentlichen Heimat“ kompensiert.
Damit aber werden
Juden in Deutschland einmal mehr zu Heimatlosen. Diesmal ist diese
Heimatlosigkeit, zugegebenermaßen, bequem: Es ist eine mit deutschem Pass und
einer entsprechenden gesetzlichen Absicherung. Aber es ist eine Heimatlosigkeit,
die auf absehbare Zeit gültig bleiben wird.
Dennoch, als Jude in
Deutschland erneut heimatlos zu sein, ist kein Fluch, keine Strafe. Es ist eine
wunderbare Chance, diesem behäbigen Land, diesem konservativen Kontinent zeigen
zu können, wo es in Zukunft langgehen muss: Hin zu einer Auflösung nationaler
Engstirnigkeit, hin zu einer Flexibilität, einer existenziellen „Unsicherheit“,
ohne die auf die vielfältigen Anforderungen der globalen Entwicklungen keine
adäquaten Antworten gefunden werden können.
Der öffentliche Zweifel Paul
Spiegels, ob es richtig war, wieder jüdisches Leben in Deutschland aufzubauen,
ist eine direkte Bestätigung für unsere Heimatlosigkeit und zugleich eine Art
Signal. Gerade als Heimatlose können wir eine Säule dieser Zivilgesellschaft
werden, auch wenn sie weiter unbeliebt bleiben wird. Doch ist das so schlimm,
wenn wir dazu beitrügen, dieses immer noch rückständige Land allmählich ins
multikulturelle Zeitalter zu schubsen? Zweifel sind angebracht, ob diese
Gesellschaft und ihre politischen Vordenker dies tatsächlich wollen.
RICHARD CHAIM SCHNEIDER
haGalil onLine
11-10-2000
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