Kfar Tapuach, Jerusalem, Gaza,
Ramallah, 13. Oktober – Noe sitzt im Schneidersitz auf einem
kalten Marmorboden, den ein Palästinenser verlegt hat. Der Marmor ist
kalt, Noes Hände auch. Die Tür zur Terrasse ist geschlossen, wie die
Fensterläden im Wohnzimmer.
Über Noes Haus scheint die Sonne, sie
taucht das ganze Land drumherum in ein warmes Spätsommerlicht. Über Noe
flackert eine Neonröhre. Seit zwei Stunden versucht er, aus hebräischen
Buchstaben Worte zu formen. Es fallen ihm aber nur Quatschausdrücke ein,
über die seine Mama schimpft. Noe sei ein guter Schüler, sagt Mama Sara
Nachum. Wenn er Einsen nach Hause bringt, erfüllen ihm die Eltern
ungeachtet der Wünsche ihrer anderen sechs Kinder jede Sehnsucht, was in
gewisser Weise als Wiedergutmachung verstanden werden kann für den
seltsamen Ort, an dem Noe aufwachsen muss. Der Siebenjährige darf nicht
aus dem Haus, denn gestern erst hat jemand auf die Garagentür
geschossen.
Noe klemmt die Pajes, die
Schläfenlocken, hinter die Ohren, die Mutter steht gebückt vorm
Waschbecken und zitiert mit Singsang in der Stimme aus den fünf Büchern
Mose. Das Alte Testament ist ihre Legitimation, wenn man sie fragt, wie
es sie nach Kfar Tapuach verschlagen hat: „Und sollt’ das Land einnehmen
und darin wohnen, denn euch habe ich das Land gegeben, dass ihr’s in
Besitz nehmt.“ Noe könnte die Hausaufgaben mit den Buchstaben genauso
gut sein lassen, er und die anderen Kinder in seiner Klasse haben frei,
gewaltfrei. Sie bleiben in ihren weißen Häuser mit den roten Dächern und
dürfen nicht in ihre Swimmingpools hüpfen. Sie besuchen einander in
ihren Kinderzimmern, aber irgendwann wird das langweilig, und Jungs wie
Noe bleiben daheim. Seine Mutter versucht, die Kinder bei Laune zu
halten. Sie muss sich anstrengen, sagt sie und kratzt sich unter dem
Kopftuch, das ihre Haare versteckt. Letzte Woche erst musste sie Noe
beibringen, dass sein Geburtstagsfest abgeblasen wird.
Gewehre und Propheten
Keine Kinder von „draußen“, wie
sie hier sagen, hätten kommen können. Also hat die Mutter gesagt: „Noe,
es kann auf Gäste geschossen werden.“ Noe wird bald wie fast alle Männer
in Kfar Tapuach einen schwarzen Anzug tragen, darunter ein weißes Hemd
und auf dem Kopf über der Kippa einen Hut. Rabbiner soll er werden. Und
wenn er das sagt, lächelt die Mutter, als wäre er mit einer Eins
gekommen. Kfar Tapuach ist eine dieser von den Palästinensern gehassten
jüdischen Wehrsiedlungen, etwa 20 Kilometer nördlich von Ramallah,
mitten in der Westbank. Der Weg dorthin ist beschwerlich und
lebensgefährlich, die drumherum lebenden Palästinenser zielen mit Waffen
oder Steinen auf Autos mit israelischem Nummernschild, und an den
Checkpoints entlang der Grünen Grenze des Sechs-Tage-Kriegs von 1967
fragen israelische Soldaten, was man in Kfar Tapuach zu suchen habe, das
in diesen Tagen von der Außenwelt abgeschnitten ist: Die Palästinenser
in der Westbank und in Gaza dürfen nicht raus.
In Kfar Tapuach stehen etwa 200
Reißbrett-Häuser mit Reißbrett-Vorgärten und einem
Reißbrett-Versammlungsraum in der Mitte, in dem eine Tafel mitteilt,
welche Straßen im Moment befahrbar sind, ohne dass man Gefahr läuft,
erschossen zu werden, auch die Telefonnummer des nächsten
Armeestützpunktes steht da. Wenn man ein paar Stunden in dem Dorf
verbringt, könnte man meinen, die Menschen hier seien glücklich und
zufrieden, so geschickt gaukeln sie einem vor, die Bedrohung, in die sie
sich ohne Not begeben haben, sei normal und gehöre zum Leben. In Kfar
Tapuach gibt es keinen Supermarkt und kein Café, aber für jeden
männlichen Bewohner ein Maschinengewehr und die Pflicht, einmal im Monat
Wache zu schieben entlang des Stacheldrahtzaunes.
Noe mit seinen sieben Jahren ist
den Ausnahmezustand gewöhnt. Wenn Krieg ist wie jetzt, sagt er: „Ich
muss zu Hause bleiben, draußen ist es zu gefährlich.“ In ruhigeren
Zeiten kommt morgens ein vergitterter Bus an das schwere Eisentor von
Kfar Tapuach und bringt Noe und 40 andere Kinder zur Schule, eskortiert
vorne und hinten von israelischen Militärjeeps. Aus dem Bus blicken die
Kinder durch Gitter und Panzerglas auf eine karstige Hügellandschaft, in
der Menschen wie Familie Nachum das Land der Propheten sehen, das Land
Abrahams, Jakobs und König Davids. Deshalb haben die Nachums den langen
Weg auf sich genommen von Brooklyn hierher. In ein Gebiet, das Wasser so
braucht wie die Mehrheit der Menschen, die dort schon viel länger leben,
die Freiheit.
Die 200 Familien hier kommen fast
alle aus Amerika und wenden sich wortlos ab, wenn sie hören, dass man
von einer deutschen Zeitung kommt. Die sich nicht abwenden, reden von
Selbstverwirklichung als Juden und wollen einen bekehren, zu leben wie
sie. Sie sind so sehr beschäftigt, gläubige Juden zu sein, dass es ihnen
unvorstellbar ist, ein Jude könne anders sein als sie. Spricht man die
Menschen in Kfar Tapuach auf den Krieg an, sagen sie schulterzuckend:
„Unser Recht, hier zu leben, ist stärker als das der Palästinenser. Die
haben Dutzende arabischer Staaten, wir nur Judäa und Samaria.“ Die
meisten Siedler schlafen nur auf biblischem Boden, arbeiten tun fast
alle in Jerusalem oder Tel Aviv.
Nirgends wohnen Todfeinde so eng
beieinander wie im Westjordanland. Unter 1,6 Millionen Palästinensern
siedeln fast 150 000 Juden, die den Anspruch auf dieses Land mit
dem Alten Testament begründen. Es sind meist keine Israelis, sondern
Zugezogene, über die sich viele Israelis irritiert äußern. Sie verstehen
nicht, wie man Jahrzehnte in einem Land wie den USA leben kann, wo alles
erlaubt ist, und sich dann in der Westbank stark macht für die strikte
Einhaltung des Schabbats. Will man die Nachums samstags sprechen, muss
man vorbeischauen. Sie würden nie den Telefonhörer abheben.
Die Westbank-Siedler gehören zum
Schwierigsten, worüber Israelis und Palästinenser verhandeln müssen. Die
jüdischen Siedler haben sich unter dem Protektorat aller Regierungen
Israels auf dem Boden niedergelassen, der den Palästinensern
zurückgegeben werden soll. Dass keine Einigung in Sicht ist, zeigen die
letzten Tage: Palästinenser bewerfen einen Autokonvoi mit Steinen, der
den ermordeten Rabbiner Hillel Lieberman zu Grabe geleitet; jüdische
Siedler attackieren palästinensische Häuser; Palästinenser lynchen zwei
israelische Reservesoldaten, die sich im unüberschaubaren Flickenteppich
Westbank aus Zonen A, B und C verfahren haben und im Zentrum von
Ramallah landen. In der Hölle. Mehrere Polizisten nehmen die zwei
Zivilisten fest, die unterwegs sind zu einem Armeestützpunkt im Norden
Ramallahs, wo sie ihren Reservedienst absolvieren. Binnen Minuten
spricht sich unter Hunderten von Palästinensern herum, die von einer
Beerdigung kommen, dass zwei Israelis auf der Wache sind. Die
Palästinenser stürmen das Gebäude, und die bewaffneten Polizisten
schauen zu, wie der Mob die beiden Soldaten zu Tode tritt, mit Steinen
ihre Köpfe zertrümmert, mit Messern die Bäuche aufschlitzt. Einer der
Soldaten wird aus dem Fenster im ersten Stock geschmissen, der
palästinensische Mob tritt auf den Mann ein, von dem die Welt später
erfährt, dass er Vadim Nortschich heißt.
Feiern nach dem Morden
Ein italienisches Fernsehteam
filmt diese Schlachtung. Vadim Nortschichs Handy klingelt, und ein
Palästinenser nimmt den Anruf entgegen. Es ist die Frau des Soldaten,
erst letzte Woche hat das Paar geheiratet, und sie ist schwanger. Der
Palästinenser brüllt: „Hier spricht nicht dein Mann, den habe ich gerade
umgebracht.“ Die Mörder lassen die Frau am Tod ihres Mannes teilhaben.
Der Sprecher der israelischen Armee Yarden Vatikay sagt, es gebe Bilder,
die zeigen, wie Palästinenser den Israeli anzünden und mit einem Auto
durch Ramallah schleifen. Sie seien so „furchtbar“, dass man sie
niemandem zumuten könne. Nach der Mordtat feiern hunderte Palästinenser
in den Straßen Ramallahs, die Mörder strecken ihre blutigen Hände in die
Höhe, ein BBC-Reporter wird von drei Hamas-Männern angehalten und
gefragt, ob er Amerikaner sei. Er muss seinen Ausweis zeigen. „Die
hätten mich umgebracht“, sagt er hinterher, „wenn ich Ami gewesen wäre.“
Drei Stunden später schießt
Israels Armee auf palästinensische Fernseh- und Radiostationen, die in
den letzten Tagen Agitprop gesendet und die Massen aufgehetzt hatten.
Auch Arafats Hauptquartier in Gaza wird getroffen. Palästinensische
Politiker wie Saeb Erekat oder Hanan Aschrawi beeilen sich zu klagen,
Israel verübe Massaker an Zivilisten. Wenn man Aschrawi zu den
Lynchmorde an den Soldaten befragt, behauptet sie, die Polizei habe sie
zu verhindern versucht. Im Fernsehen sieht man 50 schwer bewaffnete
Polizisten, die einem animalischen Mob beim Töten zuschauen.
Die Horror-Bilder lassen die
israelischen Nachrichtenmoderatoren schlucken, im Fernsehen wird leise
Musik gespielt, am Freitag stehen die Menschen in Obst- und Gemüseläden
und reden über „den Krieg“ und darüber, dass die Love Parade in Tel Aviv
kommende Woche wohl abgesagt wird. Am Donnerstagabend ist in den großen
Städten Israels nichts zu hören außer einem hunderttausendfach
verstärkten Fernsehton, Kneipen, Bars und Clubs sind leergefegt wie in
Golfkriegszeiten. Der Schriftsteller Amos Oz sitzt Stunden nach den
Lynchmorden und den Bombenangriffen bei einer Hochzeitsfeier
südamerikanischer Freunde in der Küstenstadt Netanja und stochert im
Nachtisch. Eine Bigband spielt leise, Oz diskutiert mit seinem Freund
Zwi die Lage. Sie ist „furchtbar“, sagt Oz. Die von Arafat sanktionierte
und kanalisierte Gewalt sei ein letzter Versuch des Mannes, soviel wie
möglich herauszuholen in den Verhandlungen. Oz glaubt, Arafat hätte es
gerne gesehen, wenn bei dem Bombardement palästinensische Frauen und
Kinder getötet worden wären: „Das wäre sein Trumpf gewesen.“ Die
Situation, sagt der Schriftsteller, „ist ganz einfach: Fünf Millionen
Juden leben hier, sie werden nicht gehen. Vier Millionen Palästinenser
leben ebenfalls hier und werden auch nicht gehen. Es muss und wird also
Frieden geben.“
In Israel fragen sich die
Menschen, wie man einem uniformierten Ex-Terroristen wie Arafat nur
sieben Jahre lang jede diplomatische Zuvorkommenheit zukommen lassen
kann – der sein Volk nicht zügelt und sich nach Lynchmorden und
Bombardement in Saddam-Hussein-Manier filmen lässt, wie er in
Krankenhäusern Palästinensern die Gipsbeine küsst. Innerhalb eines Tages
ist die Zuversicht endgültig geschwunden, dass in Arafat Israel ein
Partner gegenüberstehe, mit dem sich Frieden zimmern ließe. Das Land
brennt, obwohl es dem Frieden noch nie so nahe war wie jetzt. Der
Reporter Daniel Ben-Simon von Haaretz sagt, Arafat lebe so sehr
in seiner militärischen Welt, dass ihm nicht an einem demokratischen
Staat gelegen sei: „Dort würde er ja nur an Macht verlieren.“
Das sieht auch Machmud so, der
siebenfache Familienvater aus Gaza. Israel hat den Streifen abgeriegelt,
so kann Machmud nicht zum Arbeiten nach Hulda fahren, ins israelische
Kibbutz. Jeden Morgen steht Machmud um halb drei auf, braucht vier
Stunden bis nach Hulda, inklusive aller Kontrollen an den
Grenzübergängen, am Abend kommt er nach acht Stunden in der
Saatgutfabrik zurück. Man kann Machmud jetzt nicht besuchen, sowieso rät
er ab: „Es ist zu gefährlich hier, die Menschen sind geschockt und
wütend.“ Bei den Angriffen israelischer Kampfhubschrauber habe „alles
gezittert“. Machmud sagt, es sei schwierig für ihn, an Frieden zu
glauben. Wegen der jüdischen Siedlungen.
Und wegen Arafat. „Vielleicht“,
sagt er, „wären wir schon viel weiter“, wenn Arafat abdankte und einem
Neuen Platz machte. „Jemandem, der eine Ahnung hat von Demokratie.“
Machmud steht mit dem Handy in seinem Olivenhain und erklärt, warum so
viele Palästinenser für ihre Freiheit gestorben sind: „Für uns gibt es
ein Leben nach dem Tod, weshalb das Leben jetzt nicht so wichtig ist.
Und für eine gute Tat kommt man auf jeden Fall in den Himmel und wird
dort von 70 Jungfrauen empfangen.“ Und so eine gute Tat sei „leider“
auch, dass israelische Soldaten gelyncht werden.