Der Untergang des Morgenlandes
hat begonnen, und wenn er für die unmittelbar Betroffenen nicht so
dramatisch verliefe, dann wäre es ein Thema bitterer Satire, dass den
versammelten Weisen aus dem Abendland zur Eskalation im Nahen Osten
nichts anderes einfällt als die Ermahnung „Ruhe ist die erste
Bürgerpflicht“.
Sicher muss das Morden beendet werden, sonst erreicht die Erbitterung
Sturmstärken, bei denen sich selbst Parlamentäre mit der weißen Fahne
nicht mehr ins Niemandsland wagen können. Aber auf Dauer wäre nichts
gewonnen, wenn einmal mehr lediglich der Deckel auf den brodelnden
Kessel gebracht würde, um sich dann wieder der Tagesordnung zuzuwenden.
Genau das aber tut die
internationale Gemeinschaft seit einem halben Jahrhundert. Wann immer
der arabisch-israelische Gegensatz in offenen Konflikt umschlug,
begnügte sie sich mit Lösungen für den Augenblick – in der Hoffnung,
dass nichts so lange hält wie das Provisorische. Bei der Errichtung des
jüdischen Staates wurde ein großer Teil von dessen arabischen Bewohnern
vertrieben. Mit der Legende, sie seien dem Ruf ihrer Führer zur Flucht
gefolgt, haben inzwischen selbst israelische Historiker aufgeräumt. Wäre
es so gewesen, hätte kein Grund bestanden, ihnen nach Ende der Kämpfe
die Rückkehr zu verwehren. UNO-Resolutionen bestätigen alljährlich das
Recht auf Rückkehr oder Entschädigung. Sie werden im großen Keller für
Polit-Makulatur gestapelt. Für die Praxis gilt der Satz des
Gründervaters Ben Gurion: keinen Flüchtling zurücknehmen und keinen
Quadratmeter zurückgeben.
Das ist die eine tiefe Ursache
des Zwistes, der auf dem schlechten Weg ist, zum hundertjährigen Krieg
der Gegenwart zu werden. Die andere besteht in der Weigerung der
Palästinenser sowie eines großen Teiles der arabisch-islamischen Welt,
sich mit dem Fait accompli ihrer ersten Niederlage und aller folgenden
Auseinandersetzungen abzufinden. Hinzu kommt die israelische Siedlungs-
und Enteignungspolitik in den besetzten Gebieten. Die Genfer Konvention
verbietet es ausdrücklich, eigene Staatsbürger auf erobertem Land
anzusiedeln. Obwohl sich aber an den Wehrdörfern ständig Zwischenfälle
entzünden, beliebte die Gemeinschaft auch darüber mit halblauten
Protesten hinwegzugehen.
Vertane Chancen
Warum das so war? Als Folge des
Holocaust – den die Deutschen begingen, nicht die Palästinenser – genoss
Israel lange Zeit einen Verhaltensbonus. Und in der Zeit der weltweiten
Rivalität der USA mit der versunkenen Sowjetunion wurde der jüdische
Staat zum strategischen Vorposten Amerikas in einem Nahen Osten, in dem
die Russen mit Waffen und diplomatischer Protektion um arabische
Klienten warben. Nun ist dieser Bonus dabei, sich zu erschöpfen.
Unverändert aber agieren die USA als Schutzmacht Israels. Der Anschlag
auf ein amerikanisches Kriegsschiff in Aden, synchron zu den
Zusammenstößen in Palästina, zeigt, dass Washington genau in dieser
Rolle gesehen wird.
Über Jahrzehnte hinweg wurden
alle Chancen zum Frieden vertan. Die längst vergessene Annäherung
zwischen dem Ägypter Nasser und dem Israeli Sharett war zerstört, als
Ben Gurion erneut die Macht übernahm und zum ersten Angriff auf den
Suezkanal blies. Gedanken über ein Personalstatut für Juden, Muslime und
Christen, die unabhängig von israelischer oder palästinensischer
Staatlichkeit auf allen Territorien hätten koexistieren sollen, starben
zusammen mit Yitzhak Rabin. Nur langsam breitete sich unter den Israelis
die Erkenntnis aus, dass man Palästinensern und Syrern, hinter denen
nicht mehr die Russen standen, ohne großes Risiko für die eigene
Sicherheit mehr Konzessionen machen könnte. Am Anfang des Osloer
Friedensprozesses war die Freude der Palästinenser über die Anerkennung
ihrer nationalen Rechte so groß, dass sie bereit waren, sich mit
Teilsouveränität auf Bewährung abzufinden. Zu lange aber schleppte sich
die Umsetzung des Abkommens hin. Nun wächst eine Generation heran, die
mehr will als eine Art Bantustan von zweifelhafter Lebensfähigkeit.
Jetzt scheint es zu spät. Nie zuvor war die Stimmung so angeheizt. Nie
zuvor demolierten aufgeputschte Massen Synagogen. Nie zuvor waren die
Araber in Alt-Israel so rebellisch.
Abschied von den Mythen
Wenn in dieser Situation etwas
gerettet werden soll, dann müssen alle Seiten von ihren Mythen Abstand
nehmen. Noch 500 Jahre nach der Vertreibung der Araber aus Spanien gibt
es marokkanische Patrizier, die den Schlüssel zum Haus ihrer Familie in
Granada aufbewahren. So wenig wie einst jene Andalusier wird die
Mehrheit der Palästinenser in der Diaspora oder den besetzten Gebieten
in die Heimat der Väter in Haifa oder Jaffa zurückkehren. Ansprüche auf
Reparationen sind Sache der Politik. Nostalgie ist es nicht. Nur ungern
lassen sich übrigens Araber daran erinnern, dass Jerusalem noch zu
Beginn des letzten Jahrhunderts unter muslimischer Herrschaft stand. Als
die Briten dort während des Ersten Weltkriegs einzogen, begleiteten sie
die Jubelschreie der Frauen auf den Dächern und die Hoffnungen
arabischer Nationalisten. Der Sultan in Istanbul, nicht Araber, sondern
Türke, aber unzweifelhaft Muslim, hatte die Wünsche der Zionisten nach
Land noch mit der Bemerkung abgewiesen: „Da müssen sie warten, bis wir
tot sind. Vivisektion wird es nicht geben.“
Auf der anderen Seite entsprach
der zionistische Traum vom Volk ohne Land, das in ein Land ohne Volk
gehen sollte, nicht einmal zu Moses Zeiten der Realität. Das den Juden
in der Bibel verhießene Land von Milch und Honig war schon damals das
Land der Kananiter, Hetiter, Amoriter, Pherisiter, Veriter und
Jebusiter. Dass es von Gott verliehene Ansprüche auf Landstriche, Städte
oder Gebäude geben könnte, eignet sich zum Diskurs unter Gläubigen. In
einer grundsätzlich laizistisch angelegten Weltordnung kann dies kein
Argument sein. Soll es Frieden geben, müssen alle Beteiligten bereit
sein, aus der Geschichte Konsequenzen zu ziehen. Auch die Israelis.
Von den USA ist, nur wenige
Wochen vor der Wahl des nächsten Präsidenten, keine Initiative zu
erwarten, die über unmittelbare Schadensbegrenzung hinausgeht. Der
Friedensprozess, dessen Erfolg Präsident Clinton zur Krönung seiner
Karriere anstrebte, wird sich so schnell nicht wiederbeleben lassen.
Auch die Europäer sollten nicht glauben, sie könnten es sich leisten
untätig zu bleiben, wenn weit hinten in der Türkei die Völker
aufeinander schlagen. Ein Blick auf Ölpreise, Börsenkurse und die
möglichen Konsequenzen für ihre Volkswirtschaften zeigt: Sie sind
unmittelbar betroffen. Dass aus den anschwellenden Unruhen ein
allgemeiner Krieg zwischen Arabern und Israelis wird, ist nicht die
große Gefahr. Militärisch sind die arabischen Staaten dafür nicht
gewappnet. Die Zeichen deuten eher auf eine lange währende Guerilla hin,
mit hohem Blutzoll für die Palästinenser sowie gewaltigen moralischen
und außenpolitischen Spesen für die Israelis. Dabei sind die
historischen Rollen neu verteilt. Die Nachkommen des Philisters Goliath,
die Filistini, werfen mit Steinen. Die schweren Waffen hat diesmal
David.