Zeit der Besinnung
Der
Skandal um die Holocaust-Entschädigungen
wird immer größer / Von Gabriel Schoenfeld
Bei der Tiefe der Wunden,
die die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg geschlagen haben, ist es nicht
erstaunlich, dass sich die Fragen nach Rückerstattung und Wiedergutmachung nicht
erledigt haben. Erstaunlich ist nur, dass sie erst so spät in den Mittelpunkt
des Interesses rücken und dabei zunehmend zum Streitfall werden.
Als der letzte Schuss fiel,
waren unvorstellbare 53 Millionen Menschen in den Konzentrationslagern, in den
Städten und auf den Schlachtfeldern umgekommen. Und nicht weniger gewaltig als
dieser Preis an Menschenleben waren die Zerstörung und der Diebstahl von
Eigentum; die Nazis töteten nicht nur, sie plünderten auch, wohin sie kamen. Die
Juden
Europas, ausgewählt für ein besonderes Schicksal, wurden Opfer in beiderlei
Hinsicht. Fast überall wurden sie von der SS gezwungen, ein genaues Verzeichnis
ihres Besitzes vorzulegen, vom Tafelsilber bis zur Immobilie, von der
Briefmarkensammlung bis zur Aktie, vom Mobiliar bis zu Versicherungspolicen und
Bankkonten; all dies mussten sie ausliefern. Dann wurden sie in Ghettos
zusammengetrieben; und schließlich wurden sie abgeholt, erschossen, vergast oder
als Sklavenarbeiter umgebracht.
Norman Finkelstein hat in
der SZ seine These von der Holocaust-Industrie vorgestellt. Charles S. Maier,
Ulrich Herbert, Marcia Pally, Natan Sznaider und Jacob Heilbrunn haben ihm
geantwortet. Nun meldet sich Gabriel Schoenfeld zu Wort, Chefredakteur des
Magazins Commentary, in dessen September-Ausgabe die Langfassung dieses
Beitrags erscheint.
Die Rechnung für Tod, Raub
und Zerstörung wurde mit der Kapitulation Deutschlands fällig. Aber das Land lag
so darnieder, dass es nicht im Stande war zu zahlen. Erst 1951 verpflichtete
sich die Bundesrepublik freiwillig, die wenigen Überlebenden oder die Familien
der Ermordeten zu entschädigen und Eigentum zurückzuerstatten. In den fünfzig
Jahren seit diesem historischen Schritt wurden rund vier Millionen Anträge
ausbezahlt und insgesamt 55 Milliarden Dollar an den Staat Israel wie an
individuelle Opfer weltweit erstattet. Diese Zahlen, so beachtlich sie sind,
bedeuten keineswegs, dass ein Schlussstrich gezogen worden wäre. Vielmehr
scheint ein gewaltiger Komplex von Ansprüchen noch immer nicht geregelt; deren
Durchsetzung ist jüngst zum Hauptgeschäft geworden.
In den USA sind die Organe
der Bundesregierung, koordiniert vom stellvertretenden Finanzminister Stuart
Eizenstat, mit intensiven diplomatischen Vorstößen befasst, um eine Lösung der
ausstehenden Fragen auszuhandeln. Treibende Kraft sind der Jüdische Weltkongress
(WJC) mit dem milliardenschweren Unternehmer Edgar M. Bronfman an der Spitze
sowie andere Organisationen, mit denen der WJC eng verflochten und zum Teil
personalidentisch ist – darunter die Conference on Jewish Material Claims
Against Germany (kurz Claims Conference). Gleichzeitig hat eine kleines Heer von
Anwälten Sammelklagen gegen europäische Unternehmen eingereicht, denen
vorgeworfen wird, auf Kosten von Holocaust-Opfern vom Krieg profitiert zu haben.
Enthüllungen über Verfehlungen und Komplizenschaft und die Forderung nach
gewaltigen Entschädigungsleistungen sind alltäglich geworden.
Politiker hatten keine
Hemmungen, auf diesen Zug aufzuspringen. Der frühere New Yorker Senator Alfonse
D’Amato machte die Forderung nach Rückerstattung von Holocaust-Vermögen
gleichsam zu seinem persönlichen Markenzeichen und veranstaltete medienwirksame
Anhörungen zum Verhalten der Schweizer Banken im und nach dem Zweiten Weltkrieg.
Andere sind seinem Beispiel gefolgt. Am letzten Montag, mitten im Wahlkampf,
versammelten sich viele dieser Politiker zu einem Festbankett im New Yorker
Hotel Pierre, wo sie unter der Schirmherrschaft Bronfmans für ihre guten Taten
geehrt wurden – darunter D’Amato und Hillary Clinton, die in New York für den
Senat kandidiert.
Abgesehen davon, dass schon
die Idee eines „Entschädigungsbanketts“ fragwürdig ist, und ungeachtet der
Tatsache, dass einige Namen auf der Liste von zweifelhafter Relevanz sind (zum
Beispiel Mrs. Clinton): Die ständig länger werdende Liste von
Holocaust-Rückerstattungsprojekten sollte doch einmal auf ihre Dignität geprüft
werden – nicht zuletzt deshalb, weil sie mittlerweile von verschiedenen Seiten
angegriffen wird.
Buchstäblich bis gestern gab
es in den USA bemerkenswert wenig Diskussionen, geschweige denn
Auseinandersetzungen, über die ausufernden Initiativen, Verhandlungen,
Stiftungen und Klagen, die angeblich alle darauf abzielen, den überlebenden
Opfern des Holocaust zu helfen und der jüdischen Gemeinde zurückzugeben, was ihr
gestohlen wurde. Im Wesentlichen signalisiert dieses Schweigen zweifellos
Zustimmung zu der Überlegung, dass angesichts eines so ungeheuerlichen
Verbrechens noch das letzte Quäntchen Gerechtigkeit erfüllt werden muss. Doch
sind auch andere Faktoren im Spiel.
Einer davon ist leicht zu
verstehen. Die antisemitischen Pseudohistoriker, die den Holocaust selbst
leugnen, nehmen die Frage der Entschädigungen für ihre „Gegen-Geschichte“ in
Anspruch – als Beispiel, wie geldgierige Juden von ihrer
erfundenen Leidensgeschichte profitieren. Mittlerweile hat die extreme Linke
eine analoge These in Umlauf gebracht, so in der Schrift des virulent
israelfeindlichen Propagandisten Norman Finkelstein. Der gibt vor zu beweisen,
dass jüdische Organisationen eine skrupellose Kampagne betreiben, um ihren
eigenen Reichtum und Einfluss durch Fabrikation von nicht existierenden
Holocaust-Überlebenden zu mehren.
Angesichts dieses Bildes von
habgierigen Juden, die den Holocaust um des finanziellen
Vorteils willen ausbeuten – eines Bildes, das auf uralte antisemitische
Stereotype zurückgreift –, ist es ganz natürlich, dass in der jüdischen Gemeinde
ein allgemeiner Konsens darüber herrscht, dass das Forcieren von Rückerstattung
richtig ist. Doch gibt es auch namhafte Zweifler. So hat der Kolumnist Charles
Krauthammer seine Sorge über ein „groteskes Grapschen nach Geld“ geäußert,
dessen einzig sicheres Resultat das „Wiederaufleben Shylockscher Stereotypen“
sei. Abraham Foxman, der Vorsitzende der Anti Defamation League, fürchtet, die
dauernden Entschädigungsforderungen könnten viele Menschen zu dem Irrglauben
verführen, „dass die Juden
nicht umgebracht wurden, weil sie Juden waren, sondern
weil sie Bankkonten, Gold, Kunstgegenstände und Immobilien besaßen“.
Doch auch wenn diese Sorgen
begründet sind, ist keineswegs ausgemacht, dass sie für die Verfolgung von
Holocaust-Ansprüchen von entscheidender Bedeutung sein müssten. Wenn die
Ansprüche legitim sind, wäre es doppelt ungerecht, auf sie zu verzichten aus
Angst, den Antisemitismus zu wecken. Aber sind die Ansprüche legitim? Und werden
sie auf legitime Weise verfolgt? Hier geraten wir auf schwieriges Gelände.
Innerhalb der
Entschädigungskategorien – Zwangsarbeit, gestohlene Kunstwerke, beschlagnahmte
Immobilien, ruhende Konten, Aktien, Versicherungspolicen – gibt es natürlich
zahllose Einzelfälle, die je einzeln gewichtet und beurteilt werden müssen. Aber
nach so vielen Jahren kann die Einschätzung in jedem Fall höchst problematisch
sein. Die 20er und 30er Jahre, der Zeitraum, aus dem viele der heute strittigen
Versicherungspolicen und Bankkonten herrühren, waren bekanntlich sehr turbulent.
Hyperinflation und Wirtschaftskrise erschütterten die Weltwirtschaft; die
Regierungen Europas suchten mit Währungskontrollen, Abwertungen und anderen
Formen der Intervention gegenzusteuern, was kaum ein Wertpapier unberührt ließ.
Es folgte ein Krieg, der globale Vertreibungen, Währungsreformen,
Grenzverschiebungen, Regimewechsel und Vernichtung von Dokumenten mit sich
brachte. Nach dem Krieg wurde ein Großteil Europas kommunistisch; der Staat
übernahm die Aufsicht über private Vermögen und Unterlagen. Selbst wenn
Unternehmen heute konsequent und mit dem besten Willen vorgingen, blieben viele
Ansprüche sehr schwer zu bearbeiten.
Diese Schwierigkeiten werfen
zwangsläufig die Frage nach den Taktiken auf, die zur Erzwingung von Regelungen
angewandt werden. Wären die strittigen Fälle ausnahmslos eindeutig, so wären
nicht nur die meisten Ansprüche schon vor langer Zeit geregelt worden, sondern
es wäre auch völlig legitim, schwerstes juristisches und politisches Geschütz
aufzufahren, um die noch offenen Ansprüche durchzusetzen. Aber viele, wenn nicht
die meisten Fälle sind eben nicht eindeutig. Gleichwohl nutzen manche innerhalb
und außerhalb der organisierten jüdischen Gemeinde hemmungslos jede Methode, mag
sie auch noch so unwürdig sein, um noch die letzte Mark herauszuholen – ob
geschuldet oder nicht.
Aggressive Kampagne
Immer mehr Anwälte verlegen
sich auf das neue Spezialgebiet „Holocaust-Recht“. Sie gefallen sich in der
Rhetorik einer heiligen Sache, doch hat der Geschäftsführer des WJC, Elan
Steinberg, schon mahnend festgestellt: „Heute werden Holocaust-Überlebende durch
die Unersättlichkeit honorargeiler Anwälte ausgebeutet. “ Allerdings war sich
auch der WJC selbst nicht zu schade für bedenkliche Taktiken – etwa gegen die
niederländische Versicherung Aegon, die von der SS gezwungen worden war, alle
Policen in jüdischem Besitz an eine nationalsozialistisch geführte Firma zu
übergeben. Seit den 50er Jahren unternahm Aegon Schritte, um Rückerstattung an
die Bestohlenen zu leisten. Zudem verhandelte Aegon mit der jüdischen Gemeinde
der Niederlande erfolgreich über die Einrichtung eines Fonds, der etwa noch
bekannt werdende neue Ansprüche abdecken soll.
Dessen ungeachtet lancierte
der WJC letztes Jahr eine aggressive Kampagne gegen Aegon und stellte das
Unternehmen vor die Wahl, entweder einer in den USA ansässigen Kommission zur
Befriedigung von Versicherungsansprüchen aus der Holocaust-Ära beizutreten oder
sich auf einen Boykott seiner US-Tochtergesellschaften gefasst zu machen. Aegon
sträubte sich gegen dieses Ansinnen: Es sei selbst Opfer der Nazis geworden und
werde sich nicht an einem Vorhaben beteiligen, das ihm gleiche Schuld wie
italienischen und deutschen Firmen zumesse. „Unser Land wurde selbst in
Mitleidenschaft gezogen“, erklärte Kees Storm, der Vorsitzende von Aegon, „wir
sind in einer völlig anderen Position als andere Versicherer. “ Trotzdem
verhängte der WJC seine Sanktionen; Steinberg versprach, man werde Aegon schon
noch in die Knie zwingen: „Die Versicherungsgesellschaften“ seien als Ziel „noch
einfacher“ als die Schweizer Banken.
Nicht weniger beunruhigend
als dieser ungerechtfertigte Versuch, ein Unternehmen zur Unterwerfung zu
zwingen – der WJC hat bisher keinen einzigen aus der Holocaust-Ära herrührenden
Versicherungsanspruch gegen Aegon publik machen können, der unbefriedigt
geblieben wäre –, ist das Bemühen des WJC, die niederländische Geschichte
während des Zweiten Weltkriegs als Keule gegen Aegon einzusetzen. Der
Generalsekretär des WJC, Israel Singer, hat als Zeuge vor dem amerikanischen
Kongress erklärt, die Niederlande hätten „in puncto Holocaust die schlimmste
Vergangenheit in ganz Westeuropa – etwa 80 Prozent ihrer jüdischen Bevölkerung
wurde ermordet. Die holländische Polizei hat sie ausgeliefert. . . . Die
Weigerung Aegons und der holländischen Versicherungsunternehmen hängt engstens
mit ihrer mangelnden Bereitschaft zusammen, sich der Vergangenheit zu stellen –
sie verweigern die moralische Wiedergutmachung. “
Nun ist unbestreitbar, dass
in den Niederlanden prozentual mehr Juden umgebracht
wurden als irgendwo sonst in Westeuropa. Der britische Historiker Bob Moore
arbeitet in seinem hervorragenden Buch „Victims and Survivors“ das Zusammenspiel
verschiedener Faktoren heraus, welche diese Diskrepanz erklären. Er nennt unter
anderem die tief verwurzelte Autoritätsgläubigkeit des niederländischen Volkes
wie auch der niederländischen Juden sowie die Tatsache,
dass in den Niederlanden während des Krieges nicht die Wehrmacht, sondern
nationalsozialistische Zivilbehörden herrschten, wodurch die SS freiere Hand
hatte.
Es ist auch richtig, dass
es, wie Israel Singer bemerkt, bei den Razzien auf Juden
und ihrer Deportation in die Todeslager ein hohes Maß an Kollaboration besonders
von Seiten der niederländischen Polizei und der niederländischen Verwaltung gab.
Aber man kann nicht von niederländischen Kollaborateuren sprechen, ohne nicht
auch die andere Seite der Medaille zu sehen: die niederländischen Männer und
Frauen, die jenen Unterschlupf gewährten, welche gezwungen waren, den gelben
Stern zu tragen, und die oft einen furchtbaren Preis dafür zahlen mussten. In
der israelischen Gedenk- und Forschungsstätte Yad Vashem, gibt es akribisch
recherchierte Unterlagen über jene Männer und Frauen, die im besetzten Europa
verfolgten Juden zu Hilfe kamen. Die absolute Zahl
dieser nichtjüdischen „Gerechten“ im kleinen Holland übertrifft die aller west-
und mitteleuropäischen Länder zusammen. Die Niederlande waren außerdem das
einzige Land im besetzten Europa, das gegen die nationalsozialistischen Raubzüge
gegen die Juden einen Generalstreik erlebte – ein
heldenhafter und teuer bezahlter Schritt, der tragischerweise die Nazis nicht
von ihrem Vorsatz abbrachte, noch den letzten Juden
im Land aufzuspüren und zu ermorden.
Man kann kaum behaupten,
dass sich die Niederländer im Zweiten Weltkrieg moralisch eine weiße Weste
bewahrt hätten – weiß G'tt nicht. Und danach waren sie zu den so wenigen
Juden, die zurückkehrten, nicht selten mehr als gefühllos. Und doch ist
unser Bild vom „guten Holländer“ nicht einfach ein überlebter Mythos. Ohne
Einschränkung zu behaupten, die Niederlande hätten „in puncto Holocaust die
schlimmste Vergangenheit in ganz Westeuropa“, heißt auf frevelhafte Weise den
Namen eines Landes anzuschwärzen, das selbst furchtbar unter den Deutschen
gelitten hat.
Noch verwickelter ist der
Fall bei der Schweiz. Im Kampf gegen die Schweizer Banken haben große jüdische
Organisationen die mächtigsten Waffen aus ihrem Arsenal geholt: Sammelklagen,
Boykottdrohungen und ein Sperrfeuer an feindseliger publicity. Wieder hat
der WJC die Vorreiterrolle übernommen und die Schweizer bei diversen
Gelegenheiten für ihre Sünden – von der Goldwäsche bis zur Nichtaufnahme von
Flüchtlingen – angeklagt. Edgar Bronfman fasst vor dem Kongress den Vorwurf
dahingehend zusammen, dass die Schweizer entgegen herkömmlicher Auffassung im
Krieg „alles andere als neutral“ gewesen seien. In ähnlichem Sinne stellt ein
1997 im Büro von Stuart Eizenstat erarbeiteter Regierungsbericht die
Sittlichkeit der Schweizer Neutralität in Frage; er verweist darauf, dass das
nationalsozialistische Deutschland „eine tödliche Bedrohung für die westliche
Kultur selbst und im Falle seines Sieges auch für die neutralen Länder war“.
Natürlich bedurfte das Bild von der Schweiz als einer Art Insel der Seligen
inmitten des Kriegs längst der Korrektur. Aber an seine Stelle ist eine
spiegelverkehrte Karikatur getreten, die der historischen Realität ebensowenig
gerecht wird. Wie bei den Niederländern war das tatsächliche Verhalten der
Schweizer sehr wechselvoll.
Dass die Schweizer
Trittbrettfahrer der alliierten Kriegsanstrengung waren, ist zweifellos richtig.
Nur kann man sich schwer vorstellen, welchen sinnvollen Beitrag eine
kriegführende Schweiz – ein Volk von 5 Millionen – zur Niederringung
Deutschlands hätte leisten können. Wahrscheinlich wäre ein Großteil des Landes
binnen weniger Tage erobert worden, und neben anderen Konsequenzen wären dann
die Schweizer Juden
zusammengetrieben worden und für immer verschwunden. Nach fünfzig Jahren die
Schweizer Neutralität zu kritisieren, ohne die Alternative und deren
zwangsläufige Folgen zu bedenken, ist Salon-Moralisieren der übelsten Sorte.
Die auf Abschottung bedachte
Einwanderungspolitik der Schweiz war vermutlich nicht schlimmer als die vieler
anderer Länder während des Krieges. (Die USA selbst haben sich da auch nicht
eben mit Ruhm bedeckt. ) Freilich kann man auch manch Schreckliches nicht
ignorieren: So bewogen die Schweizer die deutschen Behörden, in jüdische Pässe
ein „J“ zu stempeln, damit die Schweizer Grenzer leichter Flüchtlinge abweisen
konnten, die um ihr Leben fürchteten. Goldwäsche und eine antisemitische
Flüchtlingspolitik sind fraglos die dunkelsten Punkte der Schweiz. Das Thema
aber, das Anwälte und jüdische Organisationen in den Mittelpunkt gerückt haben,
sind die Bankkonten von Holocaust-Opfern. Vor allem dank der Unabhängigen
Kommission unter Leitung des früheren US-Notenbankchefs Paul Volcker sehen wir
in dieser Angelegenheit jetzt klarer als vor Beginn des großen Zeterns.
Undifferenziertes Gezerre
Der Bericht der Kommission
ist angemessen scharf in seinen Urteilen. Er kommt zu dem Schluss, dass einige
Banken in der Tat „fragwürdige und betrügerische Handlungen“ begangen hätten –
etwa „dass Holocaust-Opfern oder ihren Erben Informationen über ihre Konten
vorenthalten, Konten unrichtig geschlossen und Unterlagen nicht ordnungsgemäß
geführt wurden“. Ferner gab es „viele Fälle von Unsensibilität gegenüber
Bemühungen von Opfern, ruhende oder geschlossene Konten zu reklamieren, und
einen generellen Mangel an Sorgfalt, ja sogar aktiven Widerstand gegenüber
früheren privaten und amtlichen Anfragen. “ Zu Verheimlichungs- und
Blockade-Taktiken gehörte die Berechnung von Extragebühren für Auskünfte oder
das Schließen von Konten auf eine Weise, die es schwer oder unmöglich machte,
später den Kontoinhaber ausfindig zu machen.
Andererseits war das
anstößige Verhalten offenbar auf eine relativ kleine Anzahl von Banken
beschränkt und ist nicht neueren Datums. Vielmehr „ereignete es sich vor Jahren,
in einer besonders schwierigen Zeit mit anderen Bankusancen“. Insbesondere
entdeckte man keine Beweise für eine „planmäßige Benachteiligung der Konten von
Opfern nationalsozialistischer Verfolgung“ oder „konzertierte Bemühungen, die
Gelder von Opfern nationalsozialistischer Verfolgung für unsaubere Zwecke
abzuzweigen“. Die Kommission kommt zu einem frappierenden Schluss, der dem vom
WJC und den westlichen Medien gezeichneten Bild völlig widerspricht. Sie
berichtet von „vielen Fällen“, in denen Banken „aktiv unbekannte Kontoinhaber
oder deren Erben, auch Holocaust-Opfer, ausfindig zu machen suchten und den
Saldo ruhender Konten an die entsprechenden Parteien ausbezahlten“.
Ebenso bemerkenswert ist die
von der Kommission betriebene Ursachenforschung. Die Wurzel des Problems war
nicht so sehr Habgier (die freilich auch im Spiel war) als die
Rechtskonstruktion des Schweizer Bankensystems. Eine Säule dieses Systems war
und ist das Bankengeheimnis, das in den dreißiger Jahren eingeführt wurde –
paradoxerweise nicht zuletzt zum Schutz der Vermögenswerte verfolgter deutscher
Juden. Die andere Säule war das Fehlen einer Heimfallsklausel, die – wie
in den meisten anderen Ländern – nach einer bestimmten Ruhenszeit zur
Übertragung nicht wahrgenommener Bankvermögen an den Staat berechtigt hätte.
Diese Ungewöhnlichkeit des Schweizer Rechts hat dazu geführt, dass es, wie die
Volcker-Kommission berichtet, „auch in geordneten Zeiten eine große Zahl von
ruhenden Konten“ gab und im fraglichen Zeitraum auch „eine sehr große Zahl
ruhende Konten, die nichts mit Holocaust-Opfern zu tun haben“. Der Bericht kommt
zu dem Schluss: „Die Banken haben ausländische und inländische Kunden
größtenteils gleich behandelt. “
Durch diesen lapidaren
Befund wird die Vorstellung widerlegt, die Schweizer Bankiers hätten bewusst
versucht, vom Holocaust zu profitieren. Natürlich fehlte es auch in ihren Reihen
nicht an Bösewichten, aber größtenteils bestand ihr bankentypisches schuldhaftes
Versäumnis darin, die gewöhnlichen Verfahrensregeln auf eine außergewöhnliche
Situation angewendet zu haben. Alles in allem ist zu sagen, dass sie sich der
Situation nicht gewachsen zeigten und dass sie nicht von sich aus, sondern erst,
als sie in die Kritik gerieten, systematische Anstrengungen unternahmen, einen
eklatanten Skandal zu bereinigen.
Man zögert zu vergleichen,
aber etwas Ähnliches lässt sich auch von anderen Banken sagen, sogar von Banken
in Israel, die auf ruhenden Konten von Holocaust-Opfern sitzen. (Wiederum ist
nicht Habgier der Grund; es ist nur schwierig, herauszufinden, wem was gehört. )
Und wie der Jerusalem Report berichtet hat, fehlt es sogar bei der Claims
Conference, deren Vizepräsident Israel Singer ist und in dessen Vorstand Edgar
Bronfman sitzt, nicht an unguten Durchstechereien bei der Wahrnehmung ihrer
treuhänderischen Verantwortung – hauptsächlich dadurch, dass die wirklichen
Besitzer von Vermögen oder deren Erben nicht über ihre Ansprüche auf
unreklamierte Vermögen aufgeklärt wurden, die dann der Claims Conference zur
beliebigen Verfügung zufielen. Bei der Verwaltung großer Summen, die den Toten
gehören, können also auch die gutwilligsten Gremien Verfahrensweisen und
Anreizen zum Opfer fallen, die den Anschein erwecken können, als seien sie
ebenso egoistisch und herzlos wie die Schweizer Banken.
Übergehen wir die
„honorargeilen“ Anwälte, die nur tun, was Anwälte heute eben so tun. Hat aber
die organisierte jüdische Gemeinde selbst Holocaust-Ansprüche auf eine legitime
Weise verfolgt?
Unbestreitbar ist, dass ohne
die aggressive Kampagne des WJC und seiner Zweigorganisationen viele heute
anhängige Rückerstattungsbemühungen niemals in Gang gekommen wären. Zwar ist
noch viel von dem in den neunziger Jahren verheißenen Geld durch Prozesskosten
und bürokratisches Hickhack blockiert; aber wenn es denn einmal ungehindert
fließt, könnte es noch immer der schwindenden Zahl von Holocaust-Überlebenden
zugute kommen, von denen viele, zumal in Osteuropa und Russland, in Elend und
Verlassenheit leben sollen.
Doch ist auch zu bedenken,
was sonst noch in Gang gesetzt wurde. Da ist zunächst die fragwürdige Natur
zumindest einiger der geltend gemachten Ansprüche selbst, zumal jener, die en
bloc und unter Zwang von Banken oder Unternehmen befriedigt wurden (die nicht
mehr an den Pranger gestellt und weiter Geschäfte in den USA machen wollten).
Wie wir bei den ruhenden Bankkonten gesehen haben, widerlegt der gewichtige
Bericht der Volcker-Kommission eindeutig den Vorwurf, die Schweizer Bankiers
hätten sich systematisch und in großem Stil des Diebstahls schuldig gemacht.
Wenn überhaupt, beleuchtet er die verdächtige Natur vieler
Entschädigungsansprüche. Im Rahmen einer öffentlichen Kampagne sind
Juden weltweit ausdrücklich gebeten worden, ihre Namen auf Listen von
Inhabern ruhender Konten und nicht ausgezahlter Versicherungspolicen zu setzen.
Mehr noch: Man hat ihnen den Eindruck vermittelt, das Geltendmachen eines
Anspruchs sei ein sittlicher Imperativ und würde der Gerechtigkeit zum Sieg
verhelfen.
Der Bericht der
Volcker-Kommission selbst äußert erhebliche Vorbehalte gegen das Publizieren von
Kontenlisten. Dadurch werde der „Eindruck unsensiblen und sogar unethischen
Verhaltens in einem Umfang erweckt, der von den Tatsachen nicht gedeckt ist“. Er
lade ferner zu „leichtfertigen Ansprüchen“ ein, welche „die Abwicklung
berechtigter Ansprüche aufhalten“ könnten, anstatt legitimen Anspruchstellern zu
dienen“. Ein unabhängiges Tribunal hervorragender Juristen ist mit der Bewertung
von Ansprüchen gegen die Schweizer Banken befasst und hat bereits rund 80
Prozent der Ansprüche abgewiesen. Aber die Organisationen verfolgen ihre eigene
Agenda und haben sich durch das von ihnen ausgelöste undifferenzierte Gezerre um
Entschädigungen nicht abschrecken lassen.
Unabhängig von der
Berechtigung einzelner Ansprüche kann diese Agenda Verletzungen zufügen, die
jüdischen Interessen noch abträglicher sind. Als David Ben-Gurion das
israelische Volk aufforderte, die Wiedergutmachungsleistungen der Bundesrepublik
zu akzeptieren, tat er es widerstrebend und aus dem triftigsten aller Gründe: Es
gelte, „die letzte Mahnung der zum Schweigen gebrachten sechs Millionen zu
befolgen, deren Ermordung der flammende Aufruf an Israel ist, zu wachsen, seinen
Frieden und seine Sicherheit zu schützen und so zu verhindern, dass eine
derartige Katastrophe jemals wieder das jüdische Volk heimsuchen kann“.
Existiert heute auch nur der Schatten jenes lebenswichtigen Imperativs? Ganz
sicher tragen die Rückerstattungsbemühungen, die heute von jüdischen
Organisationen in den USA forciert werden, nichts zur Sicherheit Israels bei –
nicht ausgeschlossen, dass sie sogar schaden. Seit vielen Jahren stehen
Deutschland, die Niederlande und die Schweiz unerschütterlich auf der Seite
Israels in einem Europa, das sich nicht eben als Freund des jüdischen Staates
gezeigt hat. Das Druckmachen, die Boykottdrohungen, die schlechte Presse –
manches davon ungerecht, manches um der nackten Gelderpressung willen – können
ihren Eindruck nicht verfehlen.
Das Schüren des
Antisemitismus bei den Rechtsextremen ist nur eine und keineswegs die größte
Gefahr. Die eigentliche Gefahr droht nicht von den Rändern, sondern liegt in dem
Schaden, der in der politischen Mitte Europas angerichtet wird. Ländern, die
nicht parieren, hat Israel Singer „öffentliche Angriffe und Demütigungen“
angedroht, und mehr als einmal hat seine Organisation diese Drohung wahr
gemacht. Werden die Nationen, die solche „öffentlichen Angriffe und
Demütigungen“ erfahren haben, das Richtige tun, wenn es für Israel darauf
ankommt? Etwa wenn die Feinde Israels avancierte Waffensysteme kaufen wollen?
Mit Sicherheit kann man das nicht sagen, aber man hat doch den Eindruck, dass
hier moralisches und politisches Kapital achtlos verspielt wird.
Verletzte Ehre
Mit solchen Vernunftsgründen
ist es aber nicht getan; auf dem Spiel steht auch die jüdische Ehre, die auf
verschiedene Weise verletzt wird. Zum einen erleben wir das Spektakel, dass
jüdische Organisationen in den USA gemeinsame Sache mit Politikern machen, deren
Tränen um die sechs Millionen zeitlich perfekt auf ihr Interesse an
Wahlkampfspenden und beifällige Schlagzeilen abgestimmt sind. Als
überparteiliche Ergänzung gab es das feierliche Bankett im Hotel Pierre, ein Akt
der Selbstbeweihräucherung, der den Massenmord an den europäischen
Juden auf krasseste Weise für ethnische Politik zu vereinnahmen droht.
Der andere und viel
gravierendere Punkt ist, dass bedürftige Überlebende einsam verkümmern, während
ihre Ansprüche umständlich bearbeitet werden. Die jüdische Gemeinde hat eine
jahrtausendealte stolze Geschichte der Sorge für die Ihren. Kann es wirklich
sein, dass diese gequälten Seelen warten müssen, bis endlich das Geld aus der
Schweiz oder Deutschland da ist, während das amerikanische Judentum Millionen
Dollar in den Bau von Holocaust-Museen und -Gedenkstätten in jeder Stadt der USA
gesteckt hat und Hunderte von Millionen Dollar für das Durchforsten europäischer
Bankarchive ausgegeben wurden? Wenn es wahr ist, ist es ein Skandal. Wenn es
nicht wahr ist, ist die Integrität des Judentums kompromittiert worden.
Schließlich gibt es auch den
schon angesprochenen Schaden für unser Geschichtsverständnis. Vor dem Kongress
hat Israel Singer erklärt: „Die Bedeutung der finanziellen Wiedergutmachung darf
nicht den Vorrang der moralischen Wiedergutmachung in Frage stellen – die
ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. “ Leider haben er und seine
Kollegen eine solche „ehrliche Auseinandersetzung“ nur noch schwieriger gemacht.
Die Geschichte ist kein Lehm, den man im Dienste einer noch so guten Sache so
oder so formen könnte. Sie so zu behandeln, erleichtert es nur Extremisten von
rechts und links, die Vergangenheit für ihre eigenen, ganz anderen Zwecke
umzumodeln – und am Ende zu behaupten, beim Holocaust sei es, wie bei allem, was
Juden betreffe, letztlich doch nur um Geld gegangen.
Einige dieser Extremisten
haben der organisierten jüdischen Welt vorgeworfen, sie bediene sich
regelrechter Gangstertaktiken. Andere, wie zum Beispiel Norman Finkelstein,
selbst Sohn jüdischer Holocaust-Überlebender, aber offensichtlich von Hass gegen
sein eigenes Volk erfüllt, haben Holocaust-Entschädigungen als Instrument
israelischer Unterdrückung verurteilt. Es ist eine Schande, aber nicht sehr
verwunderlich, dass manche in Deutschland Finkelstein mit Kusshand begrüßt
haben, weil sie aus seinen Worten eine gewisse Entsühnung von den Verbrechen
Deutschlands herauslesen. Man kann nur hoffen, dass das Gift seiner Attacken
andere, verantwortungsbewusstere Stimmen nicht davon abhalten wird, Kritik zu
äußern, wann und wie scharf auch immer sie notwendig ist. Bisher sind leider nur
wenige solcher Stimmen zu vernehmen. „Die Jagd nach den Milliarden in
Holocaust-Blutgeld ist vom Unwürdigen ins Schändliche abgeglitten“, mahnt
Charles Krauthammer. Für Abraham Foxman ist die Reduzierung des Holocaust auf
eine Sache von Dollar und Cent eine „Entweihung“, ein „zu hoher Preis für eine
Gerechtigkeit, die wir nie erlangen werden“.
Sie haben Recht. Es ist
höchste Zeit, sich zu besinnen.
Mittwoch, 13. September 2000
Übers. Irene Adler
haGalil onLine
10-10-2000
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