|
|
Die Frau des Jahres hat ein Lebensthema: Frauen. Solche, die heute leben,
aber noch erzählen können, wie es denn war vor 50 Jahren. Als die Bomben
fielen, die Nazis marschierten und hungernde Kinder im Schutzkeller
zitterten. Zehn Jahre lang sammelte Margarete Dörr Tagebücher und Briefe und
notierte Lebenserinnerungen. 1998 veröffentlichte sie dann ein Buch, das
jetzt, drei Bände dick, diesen Frauenalltag dokumentiert, analysiert und
kommentiert.
Der Grund, warum die Historikerin Dörr ihre Gegenwart der Vergangenheit widmet:
"Die Kriegsjahre haben sich in mir eingebrannt: Wie furchtbar wir gehungert
habe. Und dass mein Vater ums Leben kam." Und noch einen Anstoß gab es: Während
des Studiums habe sie sich oft gewundert, "dass wir, die ganz normalen Frauen
und Mädchen, gar nicht vorkamen". Denn damals, in den 50ern, galt der
Alltagsmensch noch nicht als erforschungswürdig, man blickte auf die großen
Staatsmänner und Kriegsgeneräle.
Erst in den 80er-Jahren verankerte sich die Oral History in den Universitäten.
Die Wissenschaftler begannen, systematisch Zeitzeugen zu befragen. "Ein riesiges
Versäumnis", nennt es Dörr, dass so lange damit gewartet wurde. Deshalb zog die
Professorin 1988, als sie pensioniert war und endlich Zeit für ihr Lebensthema
hatte, mit Tonband und Notizbuch los. Sie befragte 200 Frauen, sammelte von 300
weiteren Tagebuchaufzeichnungen und Lebenserinnerungen.
Ihre Idee: Die ganz normalen Frauen zu untersuchen, die weder Täter noch Opfer
waren: Kleinbürgerinnen, Arbeiterinnen, Bäuerinnen, Angestellte. Und die
Professorin i. R. fand heraus, dass es "nicht den einen, alles erklärenden Grund
gibt, warum Millionen Frauen schwiegen und wegsahen". Aber einiges sei vielen
Biografien gemeinsam: Jenseits starrer Etiketten wie "Judenfeindin" und
"Hitler-Fanatikerin" vereinten Frauen an sich Widersprüchliches.
"Die Frau findet zum Beispiel den Krieg entsetzlich, ist aber stolz, wenn ihre
Söhne ausgezeichnet werden. Befürwortet es, alle Juden in KZ zu verschleppen,
hilft aber ihrem jüdischen Nachbarn." Außerdem, so Dörr, tendierten Frauen mehr
als Männer dazu, sich in ihr privates Leben zurückzuziehen und sich nur dafür
verantwortlich zu fühlen. Sie rechtfertigten mit persönlicher Anständigkeit,
dass eine Politik, die sie gewählt haben, so unmenschlich mordet.
Wenn die Ehrungen vorbei sind, will sich Dörr wieder an den Schreibtisch setzen:
"Es gibt noch so viel zu dokumentieren - und die Zeit, die verbleibt, um die
Augenzeugen zu finden, rast davon."
taz 8.9.2000 COSIMA
SCHMITT
© Contrapress media GmbH
Vervielfältigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags
haGalil onLine
19-09-2000
|