Das Herz der Welt:
Die Geschichte der Juden in New York
Von
Tekla Szymanski
Die Autorin
lebt als Journalistin in New York und ist Associate Editor des
World Press Review Magazine sowie USA-Korrespondentin der
Frankfurter Zeitschrift Tribüne.
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"Vor dem Schiff ragte, von ihrem
hohen Sockel aus dem glitzerndem Wasser, die Freiheitsstatue.
Freiheit! Die rußigen Kuppeln und hohen quadratischen Mauern der
Stadt zeichneten sich ab. Der weiße Rauch, ausgeblichen von der
Sonne, verlor sich in den Wolken. Das war das riesige, unglaubliche
Land, das Land der Freiheit, der immensen Möglichkeiten. Das Goldene
Land." (aus: Henry Roth, "Call it Sleep")
New York. Die jüdischste aller Städte
außerhalb Israels, die Stadt, die alle
amerikanischen Juden geprägt hat, und die
das religiöse und ethnische Selbstbewußtsein
der jüdischen Einwanderer für immer
veränderte. Über die Hälfte aller
amerikanischen Juden hat einmal in New York
gelebt. Der Moloch New York beherbergte und
beherbergt die größte Konzentration von
Juden in der Welt.
Aber nicht allein die Zahl der jüdischen
Bewohner macht diese Stadt so jüdisch. Es
ist die Mentalität aller New Yorker, die die
gewaltige jüdische Einwanderungswelle über
die Jahre hin widerspiegelt. Die Italiener,
Iren, Chinesen, Puertoricaner, Juden, alle
haben dazu beigetragen, New York zu dem zu
machen was es ist: eine Einwanderungsstadt.
Die jüdischen Einwanderer jedoch drückten
ihr einen besonderen Stempel auf.
Der Durchschnitts-New Yorker ißt heute Bagel
mit Lachs, spöttelt auf Jiddisch und kennt
sich in allen jüdischen Feiertagen bestens
aus. Am Jom Kippur sind ganze Straßenzüge
ausgestorben, Mazzot gibt es zu Pessach in
jedem Supermarkt, an Rosch Haschana werden
die Straßen nicht gefegt und an allen
jüdischen Feiertagen sind - genauso wie an
den christlichen - die öffentlichen Schulen
selbstverständlich geschlossen, während an
der New Yorker Börse bei weitem weniger
Aktien gehandelt werden. New York und die
New Yorker Juden sind untrennbar: Erst waren
es die orthodoxen Stetlbewohner, die vor
hundert Jahren den rettenden Hafen
erreichten, und jetzt leben hier ihre
Nachfahren - säkularisierte Juden, deren
Kippot das Logo der lokalen
Baseballmannschaft schmücken. New York ist
ein Schmelztiegel von hundert Sprachen,
Traditionen, Gerüchen und Riten, und warum
sollte da nicht New Yorks größte
Einwanderungsgruppe herausragen?
Von 1880 bis 1920 erreichten über 2 Millionen
jüdischer Flüchtlinge aus West- und
Osteuropa den New Yorker Hafen, umschifften
die Freiheitsstatue, kletterten mit
glänzenden Augen und klopfendem Herzen über
die Laufplanke bei Ellis Island an Land.
Nachdem sie den prüfenden Blicken der
Immigrationsbeamten standgehalten hatten,
siedelten sie sich an der "Lower East Side"
in Manhattan an. Wenige reisten je weiter.
Insgesamt kamen fünf Einwanderungswellen nach
New York: Spanische und portugiesische
Juden, die sich zu Kolonialzeiten im frühen
New York ansiedelten; deutsche Juden, die
Europa während der Revolution von 1848
entflohen; osteuropäische Juden, die den
Pogromen in den 1880 Jahren zu entrinnen
versuchten; Holocaustflüchtlinge aus
Westeuropa in den 30er Jahren, und russische
und ukrainische Juden, die nach dem Fall der
Sowjetunion 1990 dem wachsenden
Antisemitismus in ihrer Heimat den Rücken
kehrten. Ein jeder brachte seine eigenen
Bräuche mit, ließ sich mit seinen Träumen
und Hoffnungen in der Stadt nieder. Familien
fanden sich wieder. Die meisten schafften es
in der Neuen Welt, ihre Kinder formten den
Kern der "amerikanischen Juden" - und alle
veränderten das Bild der Stadt für immer.
Um 1900 wurde New York zum Zentrum des
amerikanischen Judentums erklärt: 29 Prozent
der New Yorker waren jüdisch. 1920 waren 40
Prozent der Bewohner von Manhattan Juden.
Heute sind es 16 Prozent: 1.13 Millionen
Juden leben im Großraum New York, jeder
vierte New Yorker ist Jude. Über eine
viertel Million Juden leben heute in
Manhattan. Judentum und Christentum üben
einen gleichgestellten kulturellen und
sozialen Einfluß auf die Stadt aus.
New York bot allen Neuankömmlingen
Sicherheit, aber es ermöglichte besonders
den jüdischen Einwanderern noch viel mehr:
die Stadt gab ihnen ihre individuelle
Freiheit wieder - und damit ihr
Selbstbewußtsein -, und das zum ersten Mal
in der jüngsten jüdischen Geschichte. Wie
aber nahm das jüdische New York seinen
Anfang?
Weitere Artikel
der Autorin unter:
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01-09-2000
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