Vorschnelle Begeisterung
Ein kritikwürdiges Buch, eine nützliche Provokation:
Über die Thesen Norman Finkelsteins
Von ULRICH HERBERT
Das Buch von Norman Finkelstein, so war kürzlich zu lesen, spreche endlich
die Themen an, die "den vagen Unmut, den man in Deutschland zuweilen
verspüren mochte" hervorgerufen hätten: "Das Geschäft mit dem moralischen
Kapital des guten Gewissens." Es ist, heißt es erleichtert, "als würde
plötzlich ein Fenster geöffnet." Prüft man indes Finkelsteins Ausführungen
näher, wird man zu nüchterneren und zudem nicht ganz einheitlichen
Einsichten gebracht.
Finkelstein stellt drei Thesen auf. Die erste lautet: Die Geschichte des
Holocaust ist ein Instrument der jüdischen Eliten in den USA zur Stärkung der
Position Israels und ihrer eigenen Position. Bis 1967 sei Israel schwach
gewesen, entsprechend gering sei auch die Unterstützung der jüdischen Eliten für
Israel und die Bedeutung der Erinnerung an den Holocaust gewesen. Nach dem
Sechstagekrieg 1967 aber sei Israel zur Vormacht im Nahen Osten und zu einer Art
Vorposten des Westens an der Grenze zu den arabischen Ländern geworden. Um die
israelische Politik gegenüber den Palästinensern zu unterstützen, sei dies mit
einer gezielten Aufwertung des Holocaust in den USA durch die jüdischen Eliten –
oder wie Finkelstein es nennt: durch die "Holocaust-Industrie" – verbunden
worden.
Diese These ist eng mit den Aussagen der beiden Bücher Finkelsteins über Israel
und den Nahen Osten verbunden. Finkelstein, ein Schüler Chomskys, ist stark
geprägt durch den Protest gegen den Vietnam-Krieg und die Erfahrung der
israelischen Besatzungspolitik im Westjordanland bis hin zur Intifada der späten
80er Jahre. In Bezug auf den veränderten Stellenwert Israels für die
Nahostpolitik des Westens und besonders der USA seit 1967 hat er gewiss Recht.
Die zunehmende Bedeutung des Holocausts für die amerikanische Gesellschaft ist
indes zeitlich anders einzuordnen und zudem von zahlreichen anderen Faktoren
geprägt. Noch bis in die späten 70er Jahre hinein war der Judenmord ein Thema
für nur wenige Historiker, die zudem eher zu den Außenseitern ihrer Fächer
gehörten – etwa Raul Hilberg in den USA, Wolfgang Scheffler, Hans-Günter Adler
oder Joseph Wulf in der Bundesrepublik. Es gibt keine Hinweise darauf, dass der
Sechstagekrieg zu einer intensivierten Beschäftigung mit dem Holocaust geführt
hätte. Im Gegenteil, in den 70er Jahren setzte die Linke – in den USA wie in der
Bundesrepublik – ihre eigenen Schwerpunkte in der Debatte über das NS-Regime
durch, den Arbeiterwiderstand etwa oder die Rolle der traditionellen Eliten, vor
allem der Industrie, im NS-Herrschaftssystem; dem Judenmord kam hier eine ganz
nachgeordnete Bedeutung zu. Von einer Instrumentalisierung des Holocausts für
die amerikanische Nahostpolitik ist hier nichts zu sehen. Es war in den 80er
Jahren vielmehr außerordentlich mühsam, die Auseinandersetzung mit dem Genozid
wieder stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Auf der anderen Seite ist nicht
ausgeschlossen, dass Politiker oder Publizisten den Genozid zur Stärkung der
moralischen Position Israels und zur Heraushebung des Leids, das die Juden
erfahren haben, gegenüber ähnlichen Ansprüchen anderer Minderheiten in den USA
genutzt haben – aber was wäre daran zu kritisieren? Denn in der Tat verleiht die
Geschichte des Holocausts der Politik des Staates Israel und vor allem seinem
exzeptionellen Sicherheitsbedürfnis eine eigene Legitimation. Andererseits
zählen in Israel einige herausragende Holocaust-Historiker zu den engagiertesten
Kritikern der israelischen Besatzungspolitik. Insgesamt überzeugt der von
Finkelstein hergestellte Zusammenhang nicht sehr, weil er die Entwicklung der
Debatte über den Judenmord in einen viel zu engen, geradezu verschwörerischen
Zusammenhang zur amerikanischen Nahostpolitik und zum Einfluss der
amerikanischen Juden auf diese Politik stellt. Die zweite These Finkelsteins
lautet, in den USA habe sich eine Holocaust-Ideologie herausgebildet, die den
Judenmord liturgisiert und aus dem historischen Kontext herauslöst. Der
Holocaust erscheint dabei als (vorläufiger) Höhepunkt einer ewigen Geschichte
des Judenhasses, sodass die jeweiligen historischen Umstände von geradezu
nachgeordneter Bedeutung erscheinen. Das impliziere eine Art Verbot des
Vergleichs, um die These von der "Einzigartigkeit" des Holocaust nicht zu
gefährden.
Feuilletonistisches Geplauder
Hier beschreibt Finkelstein in der Tat ein
Problem, dessen Bedeutung nicht nur in den USA zu wachsen scheint. Die Reduktion
des Judenmords auf ein quasi religiöses, unverstehbares Ereignis, die
Verkitschung der Ereignisse, aber auch die Reduktion des Genozids auf ein
feuilletonistisches Dauergeplauder – all dies ist in den USA wie in Deutschland
fast täglich zu beobachten. Finkelsteins Kritik an Eli Wiesels Liturgisierung
des Holocaust ist zwar sprachlich überzogen, aber nicht ganz falsch. Ebenso ist
von den Thesen Goldhagens, die Finkelstein zu Recht in diesen Kontext rückt,
über die seit langem ausgebildete fanatische Entschlossenheit der ganz normalen
Deutschen, die Juden zu ermorden, in der wissenschaftlichen Diskussion bis heute
nahezu nichts übrig geblieben.
Besonders problematisch ist jene Tendenz der
sich in den USA verbreitenden "Holocaust Studies" zur Dekontextualisierung des
Judenmords. Das Geschehen wird hierbei auf eine einzige Linie reduziert:
deutscher und universeller Antisemitismus hier – Massenmord dort. Der Bezug zum
Zweiten Weltkrieg insbesondere in Osteuropa und zur Ermordung anderer Gruppen
durch die Deutschen – der drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, der über
vier Millionen sowjetischen Zivilisten – wird ausgeschlossen.
Kritikwürdig sind auch die vielfältigen
Versuche zur Tabuisierung historischer Vergleiche. Es ist gewiss richtig, dass
zumal in Deutschland der Vergleich etwa mit der Vernichtungspolitik des
Stalin-Regimes einen nivellierenden, nicht selten apologetischen Zug besitzt.
Aber selbstverständlich kann die Bedeutung eines historischen Ereignisses nur im
Vergleich bestimmt werden. Und gewiss ist auch der Vergleich zu anderen Formen
des Völkermords unabdingbar, weil sonst Ausmaß und Dynamik der
nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gar nicht erkannt werden könnten.
Das Problem wird allerdings von anderen Autoren
hüben wie drüben seit längerem kritisiert und diskutiert, etwa von Peter Novick
oder Guli Ne’eman-Arad. Neu an Finkelsteins Ansatz ist indes der zuweilen
verschwörerische Beiklang. Dass er sich nicht auf namentlich genannte Personen
und Gruppen bezieht, sondern auf eine anonyme "Holocaust-Industrie", schwächt
seine Argumente immer dort, wo sie nicht nachprüfbar sind.
Die dritte These Finkelsteins besteht aus einer
massiven Anschuldigung: Jüdische Organisationen hätten die aus Deutschland
fließenden Entschädigungsgelder nicht an die Opfer weitergereicht, sondern damit
karitative Einrichtungen finanziert. Darüber hinaus hätten die jüdischen
Organisationen deutsche und schweizerische Unternehmen mit falschen
Beschuldigungen und falschen Zahlen unter Druck gesetzt.
Was die Behauptungen über die Verwendung von
Entschädigungsgeldern angeht, wird man abwarten müssen. Finkelsteins
Beschuldigungen sind sehr heftig. Ob seine Belege wasserdicht sind, bleibt zu
prüfen; Zweifel sind angebracht. Denn Finkelstein bezieht sich dabei wesentlich
auf die Ergebnisse zweier Autoren, (Ronald W. Zweig, German Reparations and the
Jewish World. A History of the Claims Conference, London 1987, und Nana Sagi,
German Reparations. A History of the Negotiations, New York 1986). In beiden
Büchern wird berichtet, dass die Jewish Claims Conference (JCC) in der
Nachkriegszeit einen Teil der an sie geflossenen Wiedergutmachungsgelder auch
für soziale Institutionen jüdischer Gemeinden verwendet hätten. Das ist seit
langem bekannt, und Zweigs Untersuchung ist sogar von der JCC finanziell
unterstützt worden. Die Jewish Claims Conference bestreitet Finkelsteins
weiterreichende Beschuldigungen ganz entschieden – das wird sich vermutlich nur
gerichtlich klären lassen.
Anders ist es mit dem Vorwurf, die jüdischen
Organisationen hätten bei den Zwangsarbeiter-Verhandlungen mit falschen Zahlen
operiert. Wir sind über die Zahl der zivilen und kriegsgefangenen Zwangsarbeiter
– durchweg Nichtjuden – durch die NS-Behörden sehr genau im Bilde. Wann in
welchen Branchen wie viele ausländische Zwangsarbeiter tätig waren, haben die
Arbeitsämter und Rüstungskommandos präzise notiert. Wesentlich unklarer hingegen
ist die Zahl der noch lebenden ehemaligen zivilen Zwangsarbeiter, zumal jener
aus Osteuropa, um die es vorwiegend ging. In den Verhandlungen lagen Schätzungen
auf der Grundlage demographischer Daten vor, zum anderen Angaben der einzelnen
Länder. Ein nicht unerheblicher Grad der Ungenauigkeit war unvermeidbar.
Schwieriger war die Bestimmung der Zahl der
KZ-Häftlinge, die als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden, wobei die Zahl der Juden
darunter bis 1944 außerordentlich gering war. Denn die Zahlen des Wirtschafts-
und Verwaltungshauptamts der SS waren ungenauer als die der Arbeitsämter,
außerdem gab es vor allem in den letzen Kriegsmonaten eine Vielzahl von
Häftlingskategorien, die nicht der SS-Zentrale unterstellt waren. Entsprechend
ungenau waren auch hier die Schätzzahlen, wie viele KZ-Häftlinge in den
einzelnen Ländern noch leben.
Verschwörerischer Beiklang
Noch viel komplizierter war schließlich die
Schätzung der Zahl der überlebenden jüdischen Zwangsarbeiter, schon weil die
Zahl der Juden, die für deutsche Firmen oder Institutionen Zwangsarbeit hatten
leisten müssen, nur sehr vage zu bestimmen ist. In vielen Ländern mussten die
Juden bereits vor ihrer Deportation "in den Osten" Zwangsarbeit leisten; für
Deutschland gibt es hierzu genaue Zahlen, für andere Länder nur zum Teil. Nach
Ankunft der deportierten Juden in Polen wurde ein größerer Teil von ihnen sofort
ermordet, ein kleinerer in die Lager überstellt, wo die Juden vorübergehend als
Zwangsarbeiter Verwendung finden sollten, bis auch sie ins Gas geschickt wurden.
Es liegt keine Statistik vor, die exakte Auskunft darüber gibt, wie viele Juden
wie lange Zwangsarbeit leisten mussten, bevor sie umgebracht wurden. In der
Sowjetunion war die Lage noch unübersichtlicher. Vermutlich kann man aber davon
ausgehen, dass mindestens ein Drittel der Juden, die während des Krieges von den
Deutschen umgebracht wurden, für kurze oder längere Zeit Zwangsarbeit leisten
mussten, überwiegend für deutsche Firmen, die Wehrmacht oder die SS. Wie groß
die Zahl der im Machtbereich der Deutschen überlebenden Juden am Ende des
Krieges war, ist nicht genau festzustellen; etwa 200 000 bis 300 000 könnte eine
wirklichkeitsnahe Schätzung sein; wobei es sich vor allem um junge und sehr
junge Menschen handelte.
Finkelstein, der über diese Fragen nicht selbst
geforscht hat, stützt sich auf die Arbeiten von Henry Friedlander mit dessen
seriöser Schätzung, wonach etwa 100 000 jüdische KZ-Häftlinge überlebt hätten,
und fragt, wie die jüdischen Organisationen bei den Verhandlungen über die
Zwangsarbeiterentschädigung dann mit heute noch lebenden 130 000 oder 140 000
ehemaligen jüdischen Zwangsarbeitern rechnen könnten.
Das Problem besteht darin, dass ein großer Teil
der Juden, die für Deutschland Zwangsarbeit leisten mussten und den Krieg
überlebten, gar nicht aus einem deutschen KZ befreit wurden. Dabei sind
mindestens zwei große Gruppen zu unterscheiden: Zum einen die Juden, die vor dem
Beginn der Deportationen nach Osteuropa etwa in Deutschland, Frankreich oder
Belgien Zwangsarbeit leisten mussten und sich retten konnten. Zum anderen die
Juden, die in Ost- und Südosteuropa in der letzten Kriegsphase nicht mehr
umgebracht, sondern zur Arbeit eingesetzt wurden, und zwar in Arbeitsbataillons
und Zwangsarbeitslagern außerhalb des SS-Kosmos, und dort am Ende des Krieges
von der Roten Armee befreit wurden. So ist es realistisch anzunehmen, dass die
Zahl der Juden, die den Krieg überlebten und Zwangsarbeit für Deutschland
leisten mussten, bei etwa 300 000 gelegen hat, von denen aufgrund ihres damals
sehr niedrigen Durchschnittsalters heute noch etwa 30 bis 40% leben mögen. Diese
Zusammenhänge übersieht Finkelstein weitgehend.
Er übersieht aber auch noch einen anderen
Zusammenhang. Als die Bemühungen um eine Entschädigung für die von Deutschland
rekrutierten ausländischen Zwangsarbeiter in den 80er Jahren erneuert wurden,
trafen sie auf eine Mauer von Desinteresse und Ablehnung. Erst als in den USA –
auch, aber nicht nur von jüdischen Organisationen mitbetrieben – eine Kampagne
gegen die verantwortlichen deutschen Unternehmen in Gang kam und kostspielige
Prozesse gegen diese Firmen vor US-Gerichten drohten, begann sich bei der
Regierung und Industrie der Bundesrepublik etwas zu regen. Die deutsche Seite
hätte am Anfang der dann einsetzenden Verhandlungen am liebsten nur die
jüdischen Zwangsarbeiter entschädigt, weil man glaubte, damit die Prozesse in
den USA vermeiden zu können, und wohl wissend, dass es sich dabei um die
kleinste Gruppe handelte. Russische oder polnische Zwangsarbeiter hingegen
verfügten über keine Möglichkeit, auf deutsche Firmen wirtschaftlichen Druck
auszuüben.
Warum die Debatte nötig ist
Es waren, und hier sei das Attribut gestattet,
jüdische Anwälte wie Michael Hausfeld, die sich für die Zwangsarbeiter aus
Osteuropa einsetzten und jüdische wie nichtjüdische Zwangsarbeiter vertraten.
Erst dadurch wurde die Verknüpfung in den Verhandlungen so fest und unteilbar.
Ohne ihr Engagement hätten die osteuropäischen Zwangsarbeiter wohl bis heute
keinerlei Aussicht auf Entschädigung.
Dass die Zahlen der heute noch lebenden
ehemaligen jüdischen Zwangsarbeiter, die von den jüdischen Organisationen
vorgelegt wurden, zu hoch waren, ist möglich. Vermutlich trifft dies auf alle
vorgelegten Zahlen zu, also auch auf die der osteuropäischen Delegationen,
wenngleich auch diese Vermutung auf nichts anderem als auf Schätzungen beruht.
Doch für den Fortgang der Verhandlungen war dies unerheblich. Denn die von
deutscher Regierung und Wirtschaft zugesagte Gesamtsumme von 10 Milliarden DM
ändert sich nicht, wenn die Zahl der noch lebenden Zwangsarbeiter sich als höher
oder niedriger erwiesen sollte als geschätzt. Auch die an die einzelnen Opfer
fließenden Summen sind davon nicht berührt; denn hier sind feste Einmalzahlungen
von 15 000 Mark für KZ-Häftlinge und für jüdische Zwangsarbeiter sowie 5 000
Mark für alle anderen vorgesehen, wobei die aus Westeuropa stammenden
Zwangsarbeiter nichts erhalten.
Finkelsteins Buch ist nützlich, wo es die
historische Dekontextualisierung des Holocaust und die Tendenz zur
Liturgisierung und Verkitschung kritisiert, wie dies andere vor ihm getan haben.
Hier kommt er aber zu keinen weiterführenden Aufschlüssen. In Bezug auf seine
These von der Abhängigkeit der Holocaust-Debatte von der amerikanischen
Israel-Politik wirkt seine Argumentation zu eng und etwas
verschwörungstheoretisch. Die Behauptungen über die missbräuchliche Verwendung
von Entschädigungsgeldern durch die JCC stehen auf wackeligem Boden, sind aber
gerichtlich unschwer überprüfbar. Seine Kritik an der Verhandlungstaktik der
jüdischen Organisationen bei der Auseinandersetzung um die
Zwangsarbeiter-Entschädigung überzeugt nicht, mit diesem Thema ist er nicht
ausreichend vertraut.
Doch als Provokation mag sein Buch nützen. Vor
allem eine intensive Debatte über die Ablösung der Beschäftigung mit dem
Holocaust vom geschichtlichen Kontext ist offenkundig nötig. Als Basis hierfür
ist aber das Buch zu schwach. Der "vage Unmut, den man in Deutschland zuweilen
verspüren mochte", muss andere Ursachen haben.
Erschienen in der
Süddeutschen Zeitung
vom 18.August 2000
haGalil onLine
20-08-2000 |