Vor 51 Jahren in Frankfurt am Main gegründet:
Zentralrat der Juden in Deutschland
von Michael Brenner
Als sich im Juli 1950 Vertreter jüdischer Gemeinden
aller vier Besatzungszonen in Frankfurt versammelten, um eine
Dachorganisation der Juden in Deutschland zu gründen, war dies - fünf Jahre
nach dem Ende der Schoa - alles andere als eine Selbstverständlichkeit.
Zwei Jahre zuvor noch hatte der Jüdische Weltkongress bei
seiner ersten Nachkriegstagung die Juden in aller Welt aufgefordert, "sich
nie wieder auf dem blutgetränkten deutschen Boden anzusiedeln". Der
israelische Konsul in München, Chaim Yachil, meinte gar, die in Deutschland
verbleibenden Juden stellten "eine Quelle der Gefahr für das gesamte
jüdische Volk dar . . . Diejenigen, die von den Fleischtöpfen Deutschlands
angelockt werden, dürfen nicht erwarten, dass Israel oder das jüdische Volk
ihnen mit Unterstützung für ihre Bequemlichkeit zur Seite stehen." Und der
deutsch-amerikanische Schriftsteller Ludwig Lewisohn prophezeite für die
Juden im Nachkriegsdeutschland "ein Leben ohne Würde, Kreativität und
Hoffnung . . . als Ausgestoßene, Verarmte und Parias".
Doch gab es bereits zu jener Zeit auch andere Stimmen, die einer
Wiederbelebung jüdischen Lebens im Nachkriegsdeutschland positiv oder
zumindest neutral gegenüberstanden. Es ging darum, eine Antwort auf die
Frage zu finden, was mit den etwa 20 000 Juden geschehen sollte, die auch
nach der Gründung des Staats Israel 1948 und der etwa gleichzeitig
wachsenden Bereitschaft der Vereinigten Staaten, jüdische Überlebende ins
Land zu lassen, in Deutschland verblieben waren. Zwar stellten sie nur einen
winzigen Bruchteil der über eine Viertelmillion jüdischer "Displaced
Persons" dar, die nach dem Krieg auf ihrem Weg aus Europa heraus in der
amerikanischen Zone Deutschlands Zwischenstation gemacht hatten. Doch auch
wenn ihre Zahl vergleichsweise gering war, so waren sie doch auf
Unterstützung angewiesen, woran der aus Köln emigrierte Rabbiner Alexander
Carlebach im Jahre 1948 keinen Zweifel ließ: "Sogar wenn wir die Wahl
hätten, könnte das Weltjudentum das Schicksal der deutschen Judenheit nicht
uninteressiert lassen, wie auch immer sie zahlenmäßig, geistig und materiell
zusammengeschrumpft ist. Wir haben aber keine Wahl, und trotz so vieler
Probleme und Sorgen, die wir bereits haben, muss dieses unsere liebevolle
und verständnisvolle Aufmerksamkeit anziehen, die wir diesen ,verlorenen
Kindern' Israels schulden."
Auch in Deutschland selbst machten sich mit dem Übergang von der
Besatzungszeit zur deutschen (Zwei-)Staatlichkeit alliierte und deutsche
Stimmen Gedanken über eine deutsch-jüdische Zukunft. Einen entscheidenden
Durchbruch für den "Aufbau nach dem Untergang" bildete eine im Juni 1949 in
Heidelberg durchgeführte Konferenz über die Zukunft der Juden in
Deutschland, unter deren Teilnehmern sich Repräsentanten internationaler
jüdischer Organisationen ebenso befanden wie Abgeordnete von jüdischen
Gemeinden und Landesverbänden.
Eingeladen hatte Harry Greenstein, Berater der US-Militärregierung in
jüdischen Fragen, der in seinen Eröffnungsworten betonte: "Die Zeit ist
gekommen, da wir das Problem der Juden in Deutschland nicht mehr von einem
separatistischen Standpunkt betrachten sollten, sondern vereinigt in unseren
Zielen und Absichten. Ich hoffe, dass wir während unserer Diskussion an
einem Punkt angelangen, an dem wir . . . eine Gesamtorganisation in Betracht
ziehen werden, die es uns möglich machen wird, gemeinsam für alle Juden in
Deutschland für die Zukunft zu planen."
Zu dieser Gesamtorganisation, die deutsche und osteuropäische, religiöse und
säkulare Juden vertreten sollte, wurde der am 19. Juli 1950 in Frankfurt am
Main gegründete "Zentralrat der Juden in Deutschland". Der Zentralrat
bildete die erste in einem freien deutschen Staat errichtete
Interessenvertretung aller jüdischen Gemeinden. Im Kaiserreich und auch in
der Weimarer Republik waren sämtliche Versuche, eine Gesamtvertretung aller
deutschen Juden ins Leben zu rufen, noch gescheitert. Entsprechend ihrer
Identität als Deutsche und Juden standen sowohl gesamtgesellschaftliche wie
auch innerjüdische Hindernisse einer reichsweiten Vereinigung im Wege. So
fürchteten etwa die bayerischen Juden, von den preußischen Juden majorisiert
zu werden, während die Orthodoxie besorgt war, von der liberalen Mehrheit an
den Rand gedrängt zu werden.
Erst die äußere Bedrohung ließ 1933 die lange vorher gehegten Pläne einer
"Reichsvertretung" der deutschen Juden Wirklichkeit werden - freilich unter
dramatisch veränderten Bedingungen. In jenen Zeiten äußerster Not bildete
die "Reichsvertretung", später in "Reichsvereinigung" umbenannt, eine
entscheidende Stütze für den "Aufbau im Untergang". In Leo Baeck stand an
ihrer Spitze kein politischer Funktionär, sondern ein geistiger
Repräsentant, auf den in schwierigster Zeit Verlass war. Das gewählte System
der Einheitsgemeinde gewährleistete religiöse und kulturelle Vielfalt, bis
zum Untergang der deutschen Juden. Alle religiösen Strömungen (mit Ausnahme
der sich abspaltenden "Austrittsorthodoxie") sollten unter ihrem Dach ein
Heim finden. Zionisten und Liberale, Orthodoxe und Reformer,
Deutschnationale und Sozialisten waren hier vereinigt, auch wenn es nicht
immer harmonisch zuging.
Der 1950 gegründete Zentralrat konnte sich nur teilweise in der Tradition
der "Reichsvertretung" sehen. Die deutsch-jüdische Gemeinschaft war nur noch
ein blasser Schatten ihrer selbst, von ihrem einstigen Selbstverständnis als
"deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens" war verständlicherweise nicht
viel mehr als ein fahler Nachgeschmack zurückgeblieben. Die meisten Juden in
Deutschland waren zudem nicht mehr deutsche Juden, sondern polnischer,
ungarischer, rumänischer Herkunft, und im Lauf der Jahrzehnte sollten sich
zu ihnen Juden aus Iran und Israel, aus den USA und der UdSSR gesellen.
Die jüdische Gemeinschaft in der Bundesrepublik blieb zwar zahlenmäßig auf
weniger als 30 000 Gemeindemitglieder beschränkt (0,05 % der deutschen
Gesamtbevölkerung), doch selbst diese kleine Gruppe war in sich äußerst
heterogen. Als mit dem Fall der Mauer in den neunziger Jahren eine
überraschende Einwanderungsbewegung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion
einsetzte - die mittlerweile die Zahl der Gemeindemitglieder verdreifacht
hat -, verstummten auch jene Stimmen, die kurz zuvor noch eine Umbenennung
des "Zentralrats der Juden in Deutschland" in einen "Zentralrat der
deutschen Juden" gefordert hatten. Ein solcher Vorgang würde heute, in einer
Zeit kultureller und ethnischer Vielfalt innerhalb der jüdischen
Gemeinschaft, die falschen Zeichen setzen.
In den fünf Jahrzehnten seines bisherigen Bestehens ist es dem Zentralrat
gelungen, in Zusammenarbeit mit den Landesverbänden und den lokalen
Gemeinden aus dem Nichts heraus eine dichte Infrastruktur zu schaffen: mit
Kindergärten und Altersheimen, mit Grundschulen und einem Gymnasium; hinzu
kommt seit einigen Jahren die Heidelberger "Hochschule für Jüdische
Studien". Die Pflege religiösen Lebens und die Sorge für die Verstorbenen,
die Vermittlung jüdischer Kultur auch an eine nichtjüdische Umwelt und die
Bewältigung der täglichen Verwaltungsarbeit gehören ebenso zu seinen
Leistungen.
All dies darf nicht als eine bloße Selbstverständlichkeit angesehen werden,
wurde es doch zumeist von ehrenamtlichen Kräften neben ihrem Berufsleben
vollbracht. Dabei hatte der Zentralrat nicht nur mit schwierigen äußeren
Bedingungen zu kämpfen, er musste auch schwarze Flecken in der eigenen
Vergangenheit reinigen. Konnte der Freitod des vielleicht einflussreichsten
jüdischen Vertreters der Nachkriegszeit, des bayerischen Staatskommissars
Philipp Auerbach 1952, noch als Folge eines Justizskandals angesehen werden,
so war das Verschwinden von Wiedergutmachungsgeldern in den privaten Topf
des langjährigen Vorsitzenden Werner Nachmann durch nichts zu rechtfertigen.
Die rasche Aufdeckung dieser Vorgänge durch Nachmanns Nachfolger Heinz
Galinski konnte bleibenden Schaden vom Ansehen des Zentralrats abwenden.
In den neunziger Jahren spielte der Zentralrat unter seinem Präsidenten
Ignatz Bubis eine nicht unwichtige, wenngleich vor allem symbolische Rolle
in der politischen Szene der Bundesrepublik. Daran wird deutlich, dass sich
das moralische Gewicht der jüdischen Präsenz in Deutschland nicht an seiner
zahlenmäßigen Stärke festmachen lässt. Dies hatte bereits der Hauptredner
der Heidelberger Konferenz von 1949, der High Comissioner der amerikanischen
Zone, John J. McCloy, vorhergesagt: "Was diese Gemeinde sein wird, wie sie
sich selbst formiert und zum Teil eines neuen Deutschland wird, wird - so
glaube ich - nahe und sorgfältig von der ganzen Welt beobachtet werden. Es
wird in meinen Augen einer der Prüfsteine von Deutschlands Fortschritt
werden."
Auf der gleichen Tagung fiel aber auch eine andere Bemerkung, die heute von
noch größerem Gewicht sein könnte. Der amerikanische Rabbiner Isaac Klein
erinnerte damals an eine alte jüdische Erzählung über einen Mann mit einer
zutiefst pessimistischen Lebensauffassung. Man fand schließlich heraus, dass
sein Pessimismus daher rührte, dass er aus allen Fenstern seines Hauses auf
einen Friedhof blickte. Die Rabbiner rieten ihm, die Fenster zur Welt der
Lebenden zu öffnen, um seine Lebensauffassung zu ändern. Daran schloss Klein
einen deutlichen Appell an: "Die Zeit ist gekommen, dass auch wir unsere
Fenster zur Zukunft hin öffnen und für das Morgen zu planen beginnen, das
sicherlich kommen wird."
Jetzt, da die meisten Juden in Deutschland nicht mehr auf gepackten Koffern
sitzen und ihre Fenster zur Zukunft hin öffnen, werden die Hauptaufgaben des
Zentralrats weit mehr noch als in der politischen Repräsentanz nach außen in
der Bewältigung der inneren Probleme liegen müssen, von Problemen, die für
eine so kleine Gemeinschaft immens sind. Die Aufgaben lassen sich mit drei
Stichworten knapp charakterisieren: Integration der Zuwanderer,
Gewährleistung eines religiösen Pluralismus und Ausbildung von Lehrern und
Rabbinern für die Gemeinden. Der Zentralrat der ersten fünfzig Jahre war
eine Organisation des Aufbaus aus den Trümmern. Der Zentralrat der nächsten
fünfzig Jahre muss eine Organisation des Ausbaus werden, unter deren Dach
eine vielfältige und moderne jüdische Gemeinschaft Platz finden kann.
Michael Brenner ist Professor für Jüdische Geschichte und
Literatur an der Universität München und Autor des Buchs "Nach dem
Holocaust: Juden in Deutschland 1945-1950" (C. H. Beck, München 1995).
aus: Frankfurter Rundschau, 19.07.2000
hagalil.com 08-07-2005 |