DRAMATISCHE Wochen liegen
hinter dem Nahen Osten. Im Westjordanland und im Gasastreifen wurde
abermals eine Revolte der palästinensischen Jugend blutig
niedergeschlagen; es gab mehrere Tote und Hunderte von Verletzten.
Im Südlibanon streckte die
proisraelische Südlibanesische Armee (SLA) nach dem hastigen Rückzug
der israelischen Besatzungstruppen die Waffen - nach 22-jährigen
Kämpfen ein wenig ruhmreicher Abgang, den die schiitischen
Hisbollah-Milizen und ein Teil der arabischen Öffentlichkeit als
ersten großen militärischen Sieg seit fünfzig Jahren feierten. Der
nicht unerwartete Tod des syrischen Staatspräsidenten Hafis al-Assad
schließlich fällt in eine äußerst kritische Phase. Ein erfolgreicher
Abschluss der Friedensverhandlungen scheint abermals gefährdet, und
wie immer in dieser Region ist das Schlimmste nicht ausgeschlossen.
Doch der Schein trügt. Der
Nahe Osten kann den Frieden nicht aufschieben. Laut und deutlich
verkündet die israelische Öffentlichkeit ihren Friedenswillen, und
in der Führung der meisten arabischen Länder nötigt der
bevorstehende Generationenwechsel zu Realismus. In Saudi-Arabien,
Ägypten und in der Palästinensischen Autonomiebehörde überschattet
die Nachfolgefrage ebenso wie in Syrien seit geraumer Zeit sämtliche
politischen Entscheidungen. Keiner der alten Führer möchte als
Erbschaft einen Krieg hinterlassen. Und so sollte man bei aller
Unruhe, bei allem Waffenlärm und Kampfgeschrei, bei allem
Blutvergießen nicht übersehen, dass die Verhandlungen weitergehen
und ein Kompromiss sich abzeichnet.
Warum hat die israelische
Regierung nach 22 Jahren des Nachdenkens plötzlich beschlossen, die
UN-Resolution 425 umzusetzen und ihre Truppen aus dem Südlibanon
zurückzuziehen? Ein Grund war sicher, dass Ehud Barak am Abend
seines Wahlsiegs im Mai 1999 versprach, die in Israel höchst
unpopuläre Besatzung zu beenden. Zudem war die Besetzung des
Südlibanons keineswegs sicherheitspolitisch zu rechtfertigen.
Entscheidend aber dürfte gewesen sein, dass man dem
Verhandlungsprozess mit Syrien neue Impulse verleihen wollte.
Diese Verhandlungen standen
seit seinem Amtsantritt hoch oben auf Baraks Prioritätenliste. Barak
erklärte sogar seine Bereitschaft, den größten Teil des Golan an
Damaskus zurückzugeben, und bekräftigte seinen Willen, mit Syrien zu
einem Verhandlungsabschluss zu kommen. Dies war bisher an der
unbeugsamen Position des syrischen Staatspräsidenten Hafis al-Assad
gescheitert, der im Einklang mit der Resolution 242 des
UN-Sicherheitsrats eine Rückkehr auf die Waffenstillstandslinien vom
4. Juni 1967 und also den Zugang Syriens zum Ostufer des Sees
Tiberias gefordert hatte.
Barak verfolgt mit seinem
einseitigen Rückzug aus dem Südlibanon drei Ziele. Er gibt der
internationalen Gemeinschaft einen neuerlichen Beweis seines
Friedenswillens; er entzieht Syrien die Möglichkeit, sich fürderhin
als Schutzmacht der im Südlibanon operierenden Hisbollah-Guerilla zu
profilieren, deren Schläge gegen die israelische Armee in der
Vergangenheit in den arabischen Ländern stets gefeiert wurden.
Außerdem rückt nun die "zweite Besatzungsmacht" ins Licht der
Öffentlichkeit, denn Syrien hat im Libanon 35 000 Soldaten
stationiert.
Damit zwingt Barak die Syrer
zum Nachdenken: Lassen sie es zu, dass die Hisbollah ihre
Aktivitäten nun auf israelischem Territorium fortsetzt, werden sie
die Konsequenzen zu tragen haben. Dieses Risiko aber kann Damaskus
nicht eingehen, zumal der wahrscheinliche Nachfolger Assads, dessen
Sohn Baschar, in den ersten Jahren seiner Herrschaft alle Hände voll
zu tun haben wird, um seine Macht intern abzusichern. Ein Abkommen
mit Israel böte Syrien zahlreiche Vorteile: Man würde den Golan
zurückerhalten, könnte seine strategischen Interessen im Libanon
wahren und käme in den Genuss von westlichen Krediten.
IN den
israelisch-palästinensischen Beziehungen zeichnet sich ungeachtet
der blutigen Zusammenstöße vom Mai dieses Jahres nunmehr, sieben
Jahre nach Abschluss der Osloer Verträge, ein historischer
Kompromiss ab hinsichtlich der drei Hauptstreitpunkte - Territorien,
Jerusalem und Flüchtlingspolitik.
Die seit Anfang Mai in
Stockholm geführten Geheimverhandlungen zwischen dem israelischen
Sicherheitsminister Schlomo Ben Ami und dem Vorsitzenden des
Palästinensischen Autonomierats, Ahmed Qorei (Abu Alaa), bieten auf
beiden Seiten Überraschungen. Unbestätigten Meldungen zufolge soll
Israel bereit sein, nicht nur, wie bisher im Gespräch, 60 bis 75
Prozent, sondern zwischen 90 und 92 Prozent des Westjordanlands
abzutreten, wobei Jerusalem ausgeklammert bliebe. Demzufolge müssten
die Palästinenser lediglich auf jene 8 bis 10 Prozent der
Territorien verzichten, in denen rund 80 Prozent der jüdischen
Siedler leben.
Was Jerusalem anbelangt,
könnten die Palästinenser ihre Hauptstadt nach Abu Dis verlegen,
einem Vorort der Heiligen Stadt, den Israel vor kurzem der
Autonomiebehörde übergab. Ein Korridor unter palästinensischer
Kontrolle würde, so der Plan, das neue Al Qods, wie Jerusalem im
Arabischen heißt, mit den heiligen Stätten der Muslime verbinden.
Ostjerusalem mit seinen 200 000 palästinensischen Einwohnern
verbliebe unter israelischer Hoheit, würde jedoch von einem
palästinensischen Gemeinderat verwaltet.
Hinsichtlich des heiklen
Flüchtlingsproblems schließlich (vier Millionen Palästinenser) würde
Israel als symbolische Geste einigen Dutzend Palästinensern die
Rückkehr gestatten, die Mehrheit jedoch sollte finanziell
entschädigt werden. Angesichts der Bedeutung, die die Palästinenser
dem "Recht auf Rückkehr" beimessen - das auch in der Resolution 194
der UN-Generalversammlung vom 11. Dezember 1948 festgehalten ist -
bleibt dieser Lösungsvorschlag das Haupthindernis für den
erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen. Manche würden diese Frage
daher am liebsten auf künftige Verhandlungen zwischen dem Staat
Palästina und dem Staat Israel vertagen.
Die Gegner dieses
Vertragsentwurfes in beiden Lagern mögen sich vor Augen halten, was
ein Kompromiss in Aussicht stellt: einen Ausweg aus dem Labyrinth
des Krieges, in dem die Völker der Region seit über fünfzig Jahren
umherirren. Ist der Frieden etwa nicht einige Zugeständnisse wert?
Le Monde diplomatique
16.6.2000 Seite 1
Dokumentation IGNACIO RAMONET
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22-06-2000
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