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Unsentimentale Reisen durch Israel (1):
Rike

Drei Partien Scheschbesch, von Maxim Biller

[1.Partie] - [2.Partie] - [3.Partie]

Es war schon spät, wahrscheinlich sehr spät. Erst ein paar Stunden vorher waren wir angekommen, es muß Ende Juli, Anfang August gewesen sein, 1977, vielleicht auch ein Jahr danach. Ich weiß nicht mehr genau, ob wir mit dem Bus vom Flughafen in die Stadt gefahren waren oder ob mein Schwager uns mit seinem gelben Fiesta – ich glaube, er fuhr damals noch den Fiesta – abgeholt hatte. Ich kann mich auch nicht mehr daran erinnern, wie meine Schwester mich begrüßte – meistens traut sie sich nicht, mir einen Kuss zu geben, und ihr Mund rutscht dann immer an meiner Wange vorbei ins Leere –, ich weiß nicht, in welches Zimmer wir unsere Sachen abstellten, ich weiß nicht, ob wir zu Hause zu Abend gegessen haben oder ob wir noch alle zusammen rausgegangen sind.

Meine Schwester und ihr Mann wohnten damals in der Arlosoroffstraße, an einer dunklen, engen Kreuzung, mit einer von mehreren Buslinien angefahrenen Haltestelle direkt vor der Haustür und einem bis zwölf Uhr nachts geöffneten Supersol-Markt gegenüber. Es war die Wohnung, in die sie nach ihrer Hochzeit eingezogen waren, und die sah ich an jenem Abend im Juli oder August 1977 oder 1978 zum ersten Mal, doch obwohl Rike und ich in dieser Wohnung, mit wenigen Unterbrechungen, die nächsten vier Wochen verbrachten, kann ich mich an sie kaum erinnern. Das einzige, was ich noch ganz deutlich sehe, ist das elektrische Licht, das dort abends war, ein schwaches gelbliches Fünfzigerjahrelicht, das die Wohnung eher verdunkelte als sie zu erleuchten, und genau dieses Licht war es auch, dessen ovalen Schimmer ich über Rikes Schulter hinweg in der Balkontür betrachtete, während wir nun draußen auf der Terrasse standen. Es war, wie gesagt, schon sehr spät, ich war wohl ziemlich müde vom Flug und dem plötzlichen Klimawechsel, aber solange Rike weinte, musste ich bei ihr bleiben.

Seit sie vor zehn Minuten, vor einer Viertelstunde oder vielleicht auch schon vor einer halben Stunde auf den Balkon getreten war, mich an der Hand hinter sich herziehend, weinte sie. Sie weinte nicht besonders laut oder leidenschaftlich, aber dafür in immer neuen, regelmäßigen Schüben, sie schluchzte sanft, und die Tränen traten eine nach der anderen so deutlich aus ihren Augenwinkeln heraus, als hätte man sie dort hingemalt. Ich konnte nicht verstehen, warum sie weinte, ich begriff nicht, was es für sie hieß, wenn sie sagte, sie fühle sich plötzlich so weit weg von zu Hause und so allein, und außerdem kenne sie hier niemanden, aber als ich sie schließlich in die Arme nahm, passierte es genau hier, genau jetzt, mitten in der Nacht, auf diesem vergessenen, baufälligen Balkon von Nord-Tel Aviv, dass ich zum ersten Mal dachte, all die dunklen Häuser und schlafenden Menschen um mich herum gehören genausowenig hierher wie ich selbst.

Daran kann ich mich ganz genau erinnern, es ist das einzige, was mir von unserem vierwöchigen Aufenthalt wirklich in Erinnerung geblieben ist, sonst sind da nur noch diese zwei endlosen fiebrigen Tage, an denen ich so starkes Zahnweh hatte, dass Rike und ich von morgens bis nachts Scheschbesch spielen mussten, damit ich mich ein wenig von den Schmerzen ablenkte.

Der Journalist und Schriftsteller Maxim Biller wurde 1960 in Prag als Sohn russisch-tschechischer Juden geboren, verbrachte seine Kindheit in der Tschechoslowakei und lebt seit 1970 in Deutschland. Er veröffentlicht seine Erzählungen, Reportagen und Kolumnen u.a. im Spiegel und der Süddeutschen Zeitung. Bekannt wurde er durch den Erzählband 'Wenn ich einmal reich und tot bin', sein Buch 'Land der Väter und Verräter' wurde preisgekrönt.

haGalil onLine 19-06-2000

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