Hetze und
Gleichgültigkeit im Tollhaus:
Das größte Übel ist das Unbehagen
Es ist
die Gleichgültigkeit eines Teil des Publikums,
die das politische Tollhaus erst möglich macht.
Von Alice Schwarz / ISRAEL
NACHRICHTEN
Liest man
in diesen Tagen die Zeitungen in Israel, so bietet sich ein
aufregendes und meist ziemlich trübes Bild. So weit die Gazetten
nicht, wie das auflagenstärkste Blatt, "Jediot Achronot", bestreikt
und daher umfang-schwindsüchtig sind, bringen sie Seiten um Seiten
an Skandalen und Affären.
Der Tod Hafis
el-Assads bot da - mit Verlaub gesagt - eine kurze Atempause. Einige
Tage lang war in Israels Presse vorwiegend und fast ausschließlich
von dem verstorbenen Diktator Syriens und seinem Nachfolger
seitenlang die Rede. Die israelischen Belange traten in den
Hintergrund. Die Lokalpolitik begann bei den Boulevardblättern erst
auf Seite vier oder fünf.
Doch Assad
ist nunmehr unter entsprechendem Prunk und Trauergepränge, wenn auch
ohne westliche politische Prominenz, in seinem Heimatort endgültig
beigesetzt worden. Die Nachfolge scheint bisher ziemlich reibungslos
geregelt, und Israels Medien haben Zeit und Platz, sich wieder
internen Umtrieben zu widmen. Und da treibt es sich nun ganz schön
um.
Zwar befand
ein Leitartikler dieser Tage, alle politischen Umwälzungen der Welt
würden verblassen angesichts der Euro 2000-Fussballmeisterschaft.
Doch bei aller Sportbegeisterung der Israelis kann Euro 2000 doch
nicht mit den Rüpelspielen in der Knesset und dem Pokern der
Koalitionsgespräche, ihren Luftsprüngen und Hürdenrennen
konkurrieren. Der Eskapismus, die Flucht aus dem Alltag und der
Politik, in die Welt der Sportpokale, ist in Israel bei aller'
Sportbegeisterung noch nicht abendfüllend.
Zweifellos wurde mit der
Kampfabstimmung in der Knesset über ihre Selbstauflosung ein
israelischer Rekord geschlagen. Erstmals in der Geschichte des 52
Jahre alten Staates hat ein Parlament weniger als ein Jahr
durchgehalten. Das ist zweifellos zum Teil auf politische Schachzüge
und Spielerleidenschaft zurückzuführen. Es ist aber andererseits
auch symptomatisch. Diese Explosion wäre nicht möglich gewesen ohne
die ungeheuerliche Zersplitterung der politischen Landschaft. Wenn
jeder, der vom Nachbarn auch nur ein wenig in seiner Meinung
abweicht, eine eigene Partei gründen darf und damit auch noch Erfolg
hat, dann kann keine Fraktion stark genug sein, um den Staat zu
tragen.
Was immer der
äußere Anlass für die Knesset-Abstimmung war, das Resultat wäre
nicht zustande gekommen ohne die SchaS-Partei. Es waren ihre 17
Stimmen, die Ehud Barak den Verlust brachten.
Keine Kontrolle des
SchaS-Schulwesens,
Legalisierung der
Piratensender etc. pp.
Die
SchaS-Minister leugnen heute unter schärfsten Worten, dass eine
mißglückte Gelderpressung für ihr defizitäres Schulwesen (welches
mehr der Erbauung als der Bildung dient) den Ausschlag gab. Aber es
ist eine Tatsache, dass sich auch nach Baraks Rauswurfdrohung und
ihrer Rücktrittansage weiter verhandeln, wobei der Preis und Einsatz
ständig zu steigen scheint. Zur Geldforderung - ,,wir sind keine
Erpresser, wir verlangen nur unser Recht!" - kommt die geforderte
Legalisierung der ultra-religiösen Piratensender, und von Stunde zu
Stunde noch manches andere.
,,Zwei
Beerdigungen haben gestern im Nahen Osten stattgefunden," schrieb
Kommentator Nachum Barnea auf der ersten Seite von ,,Jediot
Achronot" an diesem Mittwoch. ,,Die eine ging in Damaskus vor sich
und die andere in Jerusalem. Die eine betraf den Präsidenten Assad
und die andere die Regierung Barak-SchaS. Man kann sagen, dass die
Beerdigung in Damaskus viel besser geplant, viel ordentlicher und
würdiger - und viel lustiger war."
Doch wie es
scheint, könnte Barnea sich geirrt haben. Die Regierung könnte sich
durchaus noch als scheintot erweisen. Die traurige Beisetzung war
vielleicht wirklich nur ein schlechtes Lustspiel. Alle intimen
Details über einen angeblichen Telefonanruf von Barak bei Eli
Jischai, der nicht erfolgte, was zur Krise führte, und über
Marathon-Geheimberatungen der Opposition mit Raw Owadja Josef
könnten sich als irrelevant erweisen.
Barak kann
einfach nicht ohne SchaS regieren - und er will offensichtlich
regieren. Jede andere Koalitions-Kombination (neuhebräisch
"Kombinah") ist noch unmöglicher als die gegenwärtige, ausreichend
absurde. Und so kann es durchaus sein, dass es noch eine
Verlängerung der Vorstellung und eine ,,Wiederauferstehung der alten
Koalition" gibt. Im übrigen hat die Französische Presseagentur AFP
darauf hingewiesen, dass kein anderer Herrscher so oft totgesagt war
wie Hafis el-Assad. Es dauerte aber immerhin fast 70 Jahre, bis er
nicht mehr, wie Mark Twain, sagen konnte: ,,Die Nachricht von meinem
Ableben ist stark übertrieben."
Hält man an
Barneas Vergleich der ,,zwei Begräbnisse in Damaskus und Jerusalem"
fest, so möchte man fragen: Kann auch die Regierung Barak-SchaS
vielleicht noch einmal das gleiche von sich bemerken wie Mark Twain?
Dass die Nachricht von ihrem Ableben übertrieben war? Und wieviel
wird Barak dafür bezahlen müssen?
Wie demütig und wie tief gebeugt
oder auf den Knien wird Barak
nach Canossa zu kriechen haben?
Ohne SchaS
scheint wie gesagt nichts zu laufen. Dafür sprechen auch die
geradezu abenteuerlichen Anstrengungen, mit denen der
Ministerpräsident versucht, diesen sefardisch-ultra-orthodoxen
Machtfaktor in die Koalition zurückzubringen.
Diese
Koalition war und ist unmöglich genug. Sie vereint Wasser und Feuer.
Wölfe und Lämmer. Staats- und Privatkapitalisten, Gleichmacher und
Elitenanbeter, Rechte und Linke, fanatisch Fromme und fanatisch
Säkulare. Doch alle Koahitionsmitglieder waren bisher überzeugt, sie
könnten ihr Partei- und persönliches Süppchen am besten auf dem
Regierungsherd kochen. Bis sich die vielen Köche, die bekanntlich
den Brei verderben, dennoch in die Quere gerieten.
Denn die
einen sind zum Rückzug für Frieden bereit und die anderen nicht, die
einen wollen ihre fromme Weltanschauung ausbreiten und die anderen
sie eindämmen, und alle ziehen am gleichen Strick, nur in vier
verschiedene Windrichtungen. Aber bisher glich sich das anscheinend
aus.
SchaS gibt
sich ideologisch, insbesondere mit Hinblick auf die geistliche
Führung des Raw Owadja Josef, aber in Wirklichkeit ist SchaS einfach
eine Partei der Unzufriedenen aus ärmeren sefardischen
Gesellschaftsschichten. Teilweise sind es sogar ehemalige
Likud-Wähler.
Kapo, Nazi, Götzendiener, Judenrat...
Super-Haider, Goebbels, Eichmann...
Nicht alle
500.000 Anhänger dieser Fraktion - wahrhaftig eine gewaltige Zahl in
einem Staat mit nicht ganz sechs Millionen Einwohnern - sind
ultra-orthodox. Viele sind ,,mesorati" - traditionsbewußt. Aber sie
leiden an einer fast unheilbaren Malaise: sie fühlen sich
zurückgesetzt, diskriminiert ,,ihrer Abstammung" oder ihrer frommen
Traditionen wegen. Und so nehmen sie auch die bösesten Aussprüche
des Raw Owadja Josef oder des Ministers Benisri nicht übel - etwa
wenn der säkulare Abgeordnete von Schinuj, Tommy Lapid, ein
,,Super-Haider" genannt oder die Rhetorik gegen SchaS mit der
antisemitischen Nazi-Propaganda verglichen wird. Dabei Ist letzterer
Vergleich geradezu ein Verbrechen.
Es ist die
Gleichgültigkeit eines Teil des Publikums,
die das politische Tollhaus erst möglich macht. Die Kapriolen wären
weit weniger kolossal, wenn das Volk ernsten Unwillen an den Tag
legen würde. Aber das Publikum wird sich nicht rühren, wenn die
Medien, die den Ton angeben, nicht eine rote Linie ziehen und sagen:
Bis hierher und nicht weiter.
Ein
Schriftsteller, AB Jehoshua hat dieser Tage einen Anfang gemacht. Ob
man seiner Empfehlung einer Koalition Barak-Likud zustimmt oder
nicht - sie scheint momentan unmöglich - seine Mahnung an den
gesunden Menschenverstand muss man bejahen.
Auf die Frage
nach dem weitverbreiteten Unbehagen im Publikum sagte Jehoschua, ein
überzeugter Linksliberaler und Systemkritiker, in etwa, man müsse
nicht nur das halbleere Glas sehen, sondern auch das halb volle. Die
Politik liege in der Tat im Argen und es gehe vieles schief: aber
was habe man in dem halben Jahrhundert, seit der Staat besteht,
nicht auch geleistet? Das gilt auch für die gegenwärtige Regierung.
Sie hat immerhin die Libanon-Tragödie beendet, wenn auch nicht sehr
rühmlich, so doch ohne Verluste. Die Wirtschaft blüht, Israel hat
auf eine präzedenzlose Aufbauleistung hinzuweisen. Es ist
High-Tech-mäßig eine Weltgroßmacht und die Aussichten auf Frieden
dürften sich seit Assads Tod verbessert haben.
Was als
nächstes zu überwinden wäre, ist das Gefühl des übertriebenen
Unbehagens - ein Krankheitssymptom, das auch auf Hypochondrie
hinweist. Man soll Änderungen anstreben, doch mit dem
Unveränderlichen muss man eben weiter leben. Aber mit Optimismus
erzielt man keine hohen Auflagen. Nichts verkauft sich hingegen so
gut wie das Gejammer. Was zieht, ist das ,,Unbehagen in der Kultur."
Das hat schon der alte Sigmund Freud gewußt. Nur ein Heilmittel hat
auch er nicht gefunden. Vielleicht wirkt ein Blick in die noch viel
weniger glücklichen Nachbarländer Israels und auf die tragische
Vergangenheit dieses Volkes als ein Gegengift gegen die große
Verdrießlichkeit.
haGalil onLine
21-06-2000
|