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von Thorsten Schmitz
Eine Liebeserklärung an Tante Dalia oder:
Warum Kibbuznikim die besseren Menschen sind
Messias mit
hennarotem Haar
In Wahrheit ist der Messias
längst in Israel gelandet, es hat nur kaum einer gemerkt. Die Tarnung
ist auch ziemlich raffiniert: denn der Messias trägt kein wallendes
weißes Gewand, sondern bevorzugt schwarze, einteilige Kleider, er hat
kein langes lockiges Haar, sondern eine hennarote Wasserwelle für 15
Mark, seine Schuhe sind keine braunen Sandalen, sondern schwarze
Schnäppchen-Ballerinas mit güldenen Paillettenapplikationen.
Die größte Diskrepanz aber liegt in
der gesamten Erscheinung an sich: Der Messias ist kein Mann, sondern
eine Frau, 63 Jahre alt und bekannt unter dem Namen Dalia. Dass sie mit
Nachnamen Schärf heißt, interessiert hier nur das Einwohnermeldeamt. In
Israel, wo sogar Minister keine Krawatten tragen, werden selbst Fremde
nur mit ihrem Vornamen angesprochen.
Die Frau mit den müden Augenlidern
und dem Singsang in der Stimme ist eine Art universelles Rotes Kreuz in
Person: Wer immer Hilfe braucht, kann auf Dalia zählen, immer und
überall. In Dalias Wortschatz existieren einfach kein „nein“, kein
„aber“, kein „kann ich nicht“. Wenn nicht auch sie wenigstens vier
Stunden pro Kalendertag schlafen müsste, würde Dalia sofort darauf
verzichten.
Begegnung mit Vaclav
Sie würde liebend gern 24 Stunden
da sein – für andere. Für ihre eigenen Kinder zum Beispiel, die groß
sind und Berufe haben und ohne Dalias Babysittereinsätze nicht leben
könnten. Und was würden ihre Söhne Chen und Ras tun, wenn Dalia nicht
jeden Freitag und Samstag zehn Stunden Tickets verkaufen würde auf deren
Papageienfarm? Für eine Aushilfskraft haben sie kein Geld. Da ist Dalia
auch für fremde Kinder, die sie unterrichtet, und da ist sie für die
hundertmillionen Freunde und Bekannten und Verwandten in Israel und den
USA, in Südamerika und Südafrika, in Deutschland und Polen, Italien und
Frankreich, Spanien und England, Island und Irland, Russland und
Tschechien, Mallorca und Zypern, die sie um Hilfe bitten, sie besuchen
kommen, ihr schreiben, sie anrufen, sie bekannt machen mit
hundertmillionen anderen Menschen auf der ganzen Welt. Dalia kennt jeden
in Israel, auch die Familie des ermordeten Premierministers Itzchak
Rabin, und jeder kennt Dalia.
Inzwischen kennt sie auch
Tschechiens Präsidenten Vaclav Havel. Als Dalia einmal in Prag zu Besuch
war, joggte Havel mit seinem Hund und ein paar Bodyguards. Dalia rannte
zum Schrecken der Sicherheitsmänner auf den Präsidenten zu, der sich
wegen seiner Jogginghose und der tief ins Gesicht gezogenen Pudelmütze
sicher wähnte, und fiel ihm fast um den Hals. Ein Foto von ihr, sehr
glücklich lächelnd, und dem Präsidenten, ebenfalls selig, hat sie
dutzendfach fotokopiert und gibt es jedem, der ihr diese Geschichte
nicht glaubt. Sie hatte ihm damals gesagt, sie finde toll, wie sehr sich
Havel für die tschechischen Juden einsetze.
Manchmal steht Dalia morgens um
4 Uhr früh auf, um Marmelade zu kochen. Selbstverständlich isst Dalia
nie Schnitten mit der selbst gekochten Konfitüre, sie verschenkt den
zuckersüßen Brotbelag.
Ritter Nathans Tochter
Gelernt hat Dalia das Samaritertum
von ihrem Vater Nathan Schwalb, einer Art zweiter Oskar Schindler. Der
93-jährige Mann, der in einem Tel Aviver Pflegeheim lebt, hat im Zweiten
Weltkrieg tausende Juden vor den Gaskammern gerettet. Er hat Nazis mit
Geld geschmiert, dabei auch mit Adolf Eichmann verhandelt, das
Fluchtgeld in den USA und England und in der Schweiz gesammelt. Nie hat
Nathan Schwalb für sein Tun je eine Würdigung erhalten, schon gar keine
finanzielle Anerkennung bekommen. In gewisser Weise hat Tochter Dalia
ihren Vater, Ritter Nathan, verinnerlicht und lebt dessen gute Taten
weiter.
Dalia lebt in dem Kibbuz Hulda,
einem genossenschaftlichen Dorf. Nur noch 127 000 Menschen leben in
Israel in Kibbuzim – von insgesamt sechs Millionen Israelis. In einem
Kibbuz zu leben, als Kollektiv und zusammenhaltendes Team, ist außer
Mode gekommen, dabei stammen von dort Menschen wie Golda Meir, Schimon
Peres, Teddy Kollek – und, eben, Dalia.
Dalia ist in Hulda meist ohne Papa
Nathan aufgewachsen, weil der doch Juden retten musste von Genf und
Zürich aus und auch nach dem Krieg jahrzehntelang noch in der Schweiz
blieb, um den überlebenden Juden bei den Wiedergutmachungen zu
assistieren.
Dalia wohnt bis heute in einem
kleinen, vierzimmrigen Häuschen mit ihrem Mann Zvi in dem Kibbuz, das
auf halber Strecke zwischen Tel Aviv und Jerusalem liegt. Sie kennt
keinen anderen Platz auf der Welt, wo sie lieber wohnen und leben
möchte, wobei das zu große Worte sind für Kibbuzniks wie Dalia und ihren
Mann Zvi: Sie stehen früh auf, oft um 6 Uhr herum, stolpern ins
Badezimmer und absolvieren Katzenwäsche – und bleiben den ganzen Tag auf
den Beinen und fernab des Wohnzimmers, das Dalia seit zehn Jahren
„endlich mal aufräumen muss“. Und wenn die zwei abends oder nachts in
ihrem 14 Jahre alten Peugeot endlich zu Hause ankommen, dauert es noch
eine Weile, bis Dalia den voll gepackten Kofferraum der Dutzenden von
Tüten entledigt und Zvi schnell noch eben den Rasen und die Avocadobäume
sprengt.
Erst dann lässt sich Zvi aufs Sofa
in der Wohnküche fallen, der Fernseher läuft, Dalia schnippelt fürs
Nachtmahl Tomaten und Gurken und brät Eier und toastet Weissbrot, und
sie kann sicher sein, dass Zvi zwischenzeitlich den Kopf hat fallen
lassen und vor sich hin schnarcht, und es wird nicht lange dauern, bis
er ganz erfasst ist von seinen Träumen. Dalia währenddessen tut immer
so, als ob sie nicht zu essen brauchte. Für ihre Ziehmutter Chava, die
nebenan wohnt und nicht mehr gut sieht, kocht sie das komplette
Mittagessen für eine Woche vor. Dalia erledigt Papierkram und huscht
dafür von einer Ecke in die andere, öffnet Schubladen und Schränke, das
Telefon klingelt auch noch nach 11 Uhr nachts, weil man sie dann endlich
erreichen kann – und so legt sich Dalia jede Nacht erst weit nach
Mitternacht neben Zvi ins Bett, über dem die Fotos von vier Kindern und
zehn Enkelkindern hängen, obwohl sie doch heute „mal früher ins Bett
gehen wollte“.
Der größte Schatz, den Dalia
besitzt, ist ihr Mann Zvi. Von ihm hat sie sich einmal erweichen lassen:
Als die beiden noch nicht verheiratet waren, in den fünfziger Jahren,
ist Zvi drei Tage lang von Hulda mit dem Fahrrad in den Norden gefahren
– um Dalia in seine Arme zu schließen. Sie erzählt davon, als redete sie
über Diamanten.
Damit’s den andern gut geht
Dalia ist einer von diesen
Menschen, über die man in Tel Aviv milde lächelt, weil man dort dem
Hedonismus frönt und dem Geld und dem Spaß bei Nacht. Kibbuzniks wie
Dalia ist erstens ziemlich egal, wie sie aussehen, zweitens haben sie
kaum Geld, und der Spaß im Leben besteht darin, dass es den Kindern und
den Enkelkindern gut geht und dass man Besuchern ein gutes Essen
auftischen kann. Sowieso haben die Tel Aviver überhaupt gar keinen Grund
zum überheblichen Lächeln: Ohne Menschen wie Dalia und Zvi gäbe es kein
Israel.
Die Kibbuzniks haben das einst
sumpfige Israel vor Jahrzehnten trocken gelegt, haben Straßen gebaut und
Brücken, sind bei der landwirtschaftlichen Aufbauarbeit manchmal auf den
Feldern an Hitzschlag gestorben, weil sie keine klimaanlagengekühlten
Shoppingmalls hatten, in die sie sich vor 40 Grad flüchten konnten. Die
Kibbuzniks haben an allen fünf großen Kriegen, die Israel gegen seine
arabischen Feinde geführt hat, in erster Front gekämpft und nie den
Kontakt zu den USA verloren, ihrem wichtigsten Verbündeten – und sie
haben, was womöglich das größte Verdienst ist, Israel zu einem Staat für
Juden ausgebaut, der auf sehr altmodischen Werten wie Tatkraft,
Solidarität und Hilfe fußt.
Hulda ist dabei ein ganz besonderes
Kibbuz, weil in ihm sehr bekannte Persönlichkeiten ihre Pubertät
durchlebt haben. Der Schriftsteller Amos Oz unter anderen, für den Dalia
und Hulda wichtig sind wie sonst was. Er selbst kann nicht mehr in Hulda
wohnen, weil seinem Sohn, der an Asthma leidet, die trockene Wüstenluft
in Arad am Toten Meer viel besser bekommt. Dafür hat sich Oz eine gute
Ausrede ausgedacht, ein paar Mal in der Woche zu kommen und abends von
Dalias gefillte Fisch zu kosten: Sein neuestes Buch, für das er gerade
recherchiert, soll in Hulda spielen.
So spricht Amos Oz vor allen mit
Dalia – wenn sie Zeit hat – und mit all den alten Leuten aus dem Kibbuz,
die zu Hause sitzen und Zeit haben – und zu Hause essen. Denn der jedem
Kibbuz eigene zentrale Treffpunkt, der „Cheder Ochel“ genannte
Speisesaal, wurde abgeschafft. Das sei ungefähr so, sagt Amos Oz, als
nähme man einem Menschen das Herz heraus. Das werde er auch so
beschreiben in seinem neuen Roman. Tatsächlich gibt es in den wenigsten
der 270 Kibbuzim in Israel noch diese Speisesäle, wo sich die schwer
schuftenden Kibbuzniks morgens, mittags und abends mit Staub im Gesicht
und Lehm an den Schuhsohlen zum Essen trafen.
Die Kinder ziehen aus
Ein paar Kibbuzim haben versucht,
sich für das bisherige Gratisessen etwas bezahlen zu lassen. Sie führten
Computerkarten ein, mit denen man bargeldlos zahlen sollte, auch in
Hulda, aber gerade die alten Kibbuzniks fanden das sehr eigenartig: Wenn
man gerade mal 9000 Mark im Jahr aus der Gemeinschaftskasse erhält und
jeden Verdienst abführen muss, dann will man nicht unbedingt für das
Essen zahlen, das man auch noch selber gesät und geerntet hat. Das
Experiment hat in Wahrheit die Schließung des Speisesaals nur
hinausgezögert. Die hat letztendlich der Manager verfügt, der von den
Kibbuzniks gebeten worden war, Hulda auf seine wirtschaftliche Effizienz
hin zu untersuchen. Der Betrieb des Speisesaals war seiner Meinung nach
Schuld an der gähnend leeren Gemeinschaftskasse, auch die Asphaltierung
einer Zufahrtsstraße hielt er für unbezahlbar. So regnet es jedesmal
Staub, wenn jemand von Osten nach Hulda einfährt. Die rettende Idee, auf
die die paar Kibbuzim im schönen Norden Israels und am See Genezareth
Anfang der neunziger Jahre gekommen sind, verwarf der Manager ebenso:
Warum, fragte er scharf, sollte ein Tourist eine Nacht in einem Hotel in
Hulda buchen, wo Hulda doch „nichts zu bieten hat außer Ställen und
einem Künstler, der Skulpturen macht“?
Dalia arbeitet nun als Direktorin
in der Kibbuz-Schule, für 1000 Mark im Monat, die sie an die Kibbuzkasse
abführt. Dafür kriegt sie ihre Wäsche gewaschen und Weintrauben und
Tomaten und Gurken und Melonen und Brot und Milch von den Kibbuzfeldern
und aus den Kibbuzställen.
Ihre Arbeit hat sich sehr geändert,
denn weil die meisten Kibbuznikkinder keine Lust hatten auf ein Leben im
Kollektiv, sind sie in die großen Städte gezogen – so blieb irgendwann
auch der Schulnachwuchs in Hulda aus. Jetzt werden dort autistische
Kinder unterrichtet, die aus allen Teilen des Landes morgens und abends
gebracht und abgeholt werden, was, wie Dalia sagt, eine „gigantische
Organisation ist“. Denn keine Sekunde kann Dalia die Kinder alleine
lassen, sie würden sonst abhauen und sich in den Baumwollfeldern
verstecken oder auf die Straße rennen. Deshalb muss sich Dalia jeden
Tag, den sie in der Schule Dienst tut, die Ohren wund telefonieren, bis
sie den letzten Fahrer erreicht hat, der im Stau stecken geblieben ist.
Ohne Menschen wie Dalia aus dem Kibbuz Hulda wäre Israel nicht
das geworden, was es heute ist. Aber in einem Kollektiv zu
leben, in einem ein Leben lang zusammenhaltenden Team, bei sehr
viel Arbeit und wenig Geld, ist außer Mode gekommen. Heute leben
nur noch 127 000 Menschen in Israel in Kibbuzim – von insgesamt
sechs Millionen Israelis.
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Schabbat am Pool
Die Tage der anderen Lehrerinnen
nähern sich dann endlich dem Feierabend, bei Dalia kann davon längst
noch nicht die Rede sein. Sie muss zum Gespräch mit dem Bürgermeister
von der nächst größeren Stadt nach Rehovot, der die Schule schließen und
dem Kibbuz eine weitere Einnahmequelle nehmen will. Sie muss eine
Kibbuzsitzung vorbereiten, zu der die Bewohner inzwischen nicht mehr in
den Speisesaal kommen, wie früher, sondern die sie über ihre Fernseher
mit verfolgen, von Zuhause aus.
Manchmal, wenn Dalia durch das
kleine Kibbuz mit den 300 Bewohnern läuft, beschleicht sie das Gefühl,
dass da „eine Ära zu Ende gegangen ist“. Viele Häuser verfallen, in
denen früher die Volontäre aus Europa und Amerika und Kanada gelebt
haben und in denen heute Katzen nach Mäusen jagen. In anderen Häusern
leben thailändische und vietnamesische Fremdarbeiter, die das Kibbuz für
die Feldarbeit eingestellt hat, und die kein Hebräisch sprechen und
deren Kochgebräuche manchen Kibbuzniks unheimlich vorkommen.
Palästinenser anzustellen, wie es
früher gang und gäbe war, hat irgendwann keinen Sinn mehr gemacht, weil
deren Gebiete oft und während der Intifada manchmal sogar wochenlang
abgeriegelt worden waren, so dass die Baumwolle in Hulda nicht gepflückt
werden konnte und die Motoren in der Plastikfabrik stillstanden.
Und der Swimmingpool von Hulda,
früher der Treffpunkt für die Kinder und Jugendlichen, ist nur noch zwei
Stunden am Tag geöffnet für die paar Familien, die sich ein Haus
gemietet haben in Hulda und mit Genossenschaft gar nichts am Hut haben –
weil im Kibbuz selbst niemand mehr Bademeister sein wollte und man jetzt
einen von draußen bezahlen muss. Sowieso hat man den Pool vermietet an
eine Hochzeitsfeier-Firma, die fast jeden Abend – außer dem Schabbat,
der freitags abends nach Sonnenuntergang beginnt –, eine
durchorganisierte Hochzeit veranstaltet. So schallt durch Hulda
regelmäßig nachts Technomusik vom Pool in die Wohnzimmer der alten
Gebliebenen, für die diese Musik nur Lärm ist. Früher, sagt Dalia,
„haben wir Filmmusik gehört“ – als man noch abends die Arbeiter mit
Open-Air-Kino beglückt hat.
Dalia gönnt sich selbst nichts,
außer vielleicht alle drei Monate einen Besuch in der Oper in Tel Aviv,
wo sie im dunklen Saal gegen die Müdigkeit ankämpfen muss. Wenn sie
Geburtstag hat, will sie nicht, dass man ihr etwas schenkt, schon eine
Umarmung ist ihr zu viel, wenn sie einem Honig mitbringt, den sie selbst
gekauft hat, soll man ihr das Geld dafür nicht geben. Das einzige, was
sie möchte, ist Gesundheit für sich und Zvi und alle, die sie kennt.
Ein bisschen Glück wäre auch nicht
schlecht: Dalia spielt jede Woche Lotto.
probeabo.htm
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