Ramallah, im April – Amira Hass ist eine von diesen Menschen, die
in größeren Ansammlungen einfach untergehen – für solche Leute wurde das
Wie-Wort „unscheinbar“ erfunden. Sie trägt kein Kleid von Armani oder Donna
Karan, sie weiß gar nicht, wer die sind. Ihr Stil ist irgendwann zwischen
Cat Stevens und Poona stehen geblieben: Sie hüllt sich in samtene
Wallawalla-Gewänder, in denen das Volumen verloren geht. Sie hat keine
hellblau oder blond gefärbten Haare, wie es gerade Mode ist in den Straßen
von Tel Aviv und Jerusalem, sondern zähmt ihren braunen Mittelscheitel mit
einem Strass besetzten Haarreif. Auf ihrer Nase klebt eine
No-name-Nickelbrille, und wenn sie spricht, dann nicht in diesem typisch
israelischen Singsang, der jede Banalität in ein aufgeregtes Statement
konvertiert. Manchmal entkommen die Worte ihrem Mund so leise, dass man um
eine Wiederholung bitten muss. Alles Äußerliche an der 43-jährigen Amira
Hass ist Durchschnitt und so gar nicht Zoo.
Tatsächlich aber verpasst man ihr in Israel Attribute, mit denen man
sonst nur Kletterer etikettiert, die ohne Seil über Todesschluchten hinweg
kraxeln. Frau Hass gilt als „verrückt“ und „wagemutig“, als „wahnsinnig“ und
„eigenartig“. Sie liebe offenbar „die Gefahr“, sie wisse nicht, „was sie da
tut“. Die meistgestellte Frage lautet immer gleich: „Sagen Sie mal, haben
Sie denn gar keine Angst?“ Amira Hass quittiert nie mit einer Antwort,
sondern nur noch mit einem kurzen Lachen, wobei sie überhaupt auffällig
wenig lacht. Das mag damit zu tun haben, dass ihr Leben nicht mit Frohsinn
kandiert ist, von wegen.
Gefängnis mit Meerblick
Von morgens früh bis spät nachts ist Frau Hass von unglücklichen Menschen
umgeben. Von Menschen, die sich nach dem sehnen, was für Israelis
selbstverständlich ist: zu reisen und genug zu essen zu haben. Amira Hass
schreibt seit neun Jahren als Korrespondentin der seriösen israelischen
Tageszeitung Haaretz für die palästinensischen Gebiete – seit sieben
Jahren lebt sie als einzige israelische Journalistin dort. Nach dem Ende des
gewaltsamen Aufstands der Palästinenser gegen die israelische Besatzung, der
Intifada, zog Frau Hass 1993 nach Gaza City – in das Gefängnis mit Meerblick
also, in dem PLO-König Arafat seit 1994 in einem pompösen Palast mit
Swimmingpool residiert, vis-à-vis von einem Flüchtlingscamp, wo das Wasser
aus den Duschköpfen faulig kriecht und meist salzig ist. Vor vier Jahren ist
Amira Hass nach Ramallah gezogen, in die Stadt, die den Palästinensern nun
ganz alleine gehört. Wo man in Cafés auch Bier und Wein bekommt im Gegensatz
zum freudlosen Gaza, wo die radikal-islamischen Jünger der Hamas selbst das
einzige Kino in die Luft gesprengt haben. Wie viele Menschen genau in
Ramallah heute leben, weiß niemand genau zu beziffern: 40 000? 80
000? Auf jeden Fall genug, um den Israelis Angst zu machen.
Denn so denkt man in Israel über die Westbank und die in ihr
eingekapselte Stadt Ramallah: Fünf Autominuten nördlich von Jerusalem
beginnt das kriegerische Gebiet, eine Zone, in der du dich nicht mit
israelischem Kennzeichen blicken lässt, wo du besser kein Hebräisch sprichst
und dich als Jude zu erkennen gibst, weil doch die Palästinenser jeden
Israeli sofort attackieren. Überhaupt passieren nur Wahnsinnige den
Checkpoint vor den Toren von Israels Hauptstadt nach Westjordanland.
Dahinter lauert nur noch Gefahr, das heißt, der Palästinenser, der dir an
den Kragen will. Sieben Jahre nach der sagenhaften Konferenz in Madrid, als
Palästinenser und Israelis anfingen, am Frieden zu stricken, gibt es noch
immer diesen einen hässlichen Webfehler: Keinem Israeli würde es auch nur im
Traum einfallen, freiwillig ins Westjordanland zu fahren – es sei denn, der
Papst kommt und 20 000 israelische Polizisten begleiten ihn nach
Bethlehem, oder man ist jüdischer Siedler. Der betrachtet die Westbank als
heilige jüdische Erde. Aber auch weil er dem eigenen Sehnsuchtsstreben nach
biblisch legitimierter Existenzsicherung nicht ganz traut, hat man ihm
Straßen gebaut, auf denen er Städte wie Ramallah erst gar nicht durchqueren
muss, sondern relativ fix in seine Siedlungen brausen kann, die
Hochsicherheitstrakte sind. Das Westjordanland ist den Siedlern Heimat und
dem Rest der Israelis wie selbstverständlich Bestandteil ihres Landes – auch
wenn sie sich fürchten vor dem großen Stück Land, das sich Israel im
Sechs-Tage-Krieg einverleibt hat. Und ausgerechnet hier lebt eine
israelische Frau, freiwillig, unter Palästinensern!
Kaum fröhliche Artikel
Hass sieht das Dasein der Palästinenser durch deren Augen, nicht durch
die Windschutzscheibe eines israelischen Armeejeeps. Sie arbeitet in einer
unfriedlichen Zone, bewaffnet nur mit Leidenschaft und einem Kugelschreiber.
Jemand wie Amira Hass gilt in Israel als meschugge, als gaga. „Dabei“, sagt
sie, „wären wir schon viel weiter, wenn normale Israelis mit Palästinensern
ein Bier trinken gehen würden.“
Dass Hass ihre Arbeit den Palästinensern widmet, hat einen simplen Grund:
Als Kind von Holocaust-Überlebenden, die unter der Gettoisierung von
osteuropäischen Stettln litten, fühle sie sich „geradezu verpflichtet“, über
die „ähnliche Situation“ der Palästinenser zu berichten. Links zu sein ist
ihr „so selbstverständlich wie leben“, studiert hat sie die Geschichte des
Nationalsozialismus. Man könne Israel nicht ohne den Holocaust begreifen,
sagt Amira Hass. Wobei sie aber auch nicht das Leid der sechs Millionen
ermordeter Juden mit einer Million deportierter Palästinenser vergleichen
möchte. Sie sieht sich als Flüchtling, denn man hat ihren Eltern die Heimat
genommen, und „insofern ähnelt meine Situation der der Palästinenser“. Jeder
Artikel von Amira Hass enthält Leid und Tragik, Unglück und Machtmissbrauch
– sie kann sich nicht erinnern, ob sie je einen fröhlichen Artikel verfasst
hat. „Ich bin nicht verrückt, dass ich unter Palästinensern lebe“, murmelt
sie, „höchstens im Laufe der Jahre ein bisschen zynischer geworden.“ Und
auch ein bisschen einsam vielleicht, alleine gelassen in einem „permanenten
persönlichen Widerspruch“, den sie als Jüdin und Israelin in Ramallah
alleine auszutragen hat. Wenn sie Geburtstag oder Lust auf ihre israelischen
Freunde hat, kann sie nicht mal eben ein Fest feiern – kaum jemand wagt es,
sie zu besuchen. Um nicht ganz alleine zu sein, hat sie in Gaza und bis vor
kurzem in Ramallah in WGs gewohnt. Und dass man sie da ja nicht
missversteht: „Ich liebe Israel, und Israel hat ein Recht zu existieren. Es
kommt nur auf das Wie an.“ Ihr Traum wäre: Palästinenser und Israelis lebten
zusammen in einem Land, gleichberechtigt und respektvoll im Umgang
miteinander. Aber erst kommende Generationen, glaubt sie, könnten das
meistern.
Bis dahin sollte Israel Frau Hass einfach nur dankbar sein dafür, dass
sie ihr Volk mit Berichten aus der fremden Welt füttert – Hass ist die
intimste Kennerin des palästinensischen Geistes und schreibt fast täglich
Nachrichten, Reportagen und Leitartikel. Amira Hass ist der lebende
Seismograf für die Seelenlage eines Volkes, das längst den Glauben an ein
Leben in schrankenloser Freiheit aufgegeben hat. Sie ist ruppig und nicht
zuckersüß und nervt Israel aus Berufung – berichtet von Hauszerstörungen und
Grenzschikanen, vom Magenknurren eines hungrigen Volkes, dem bei einer
Abriegelung der besetzten Gebiete die Milch ausgeht und Mehl. Die
Wirklichkeit, die Amira Hass mit eigenen Augen sieht und hört und riecht,
ist für Israel unangenehm – und ihre Veröffentlichung nur hier möglich: Ihr
Publikum ist Israel. Und: Was Amira Hass nach Ungerechtigkeit am meisten
hasst, sind „Antisemiten und diese palästinenserfreundlichen Europäer, die
auf deren Elend zeigen und dann ganz erfreut sagen, siehst du, die Israelis
sind auch nicht besser, als es die Nazis waren“.
Eine Show für die Medien
Die derzeit laufenden Verhandlungen, bei denen bis September ein
Endstatus für beide Seiten gefunden werden soll, kommentiert Hass voller
Pessimismus: „Dieser Gesprächstourismus ist nur Show für die Medien“, sagt
Hass. Sie orakelt, dass bis September gar nichts gelöst sein wird – nicht
die künftigen Grenzziehungen und die Rückkehr von Flüchtlingen, schon gar
nicht der Status von Jerusalem und der Wasserquellen unter Westbankerde.
„Die Stimmung“, sagt Hass, „ist unerträglich mies unter den Palästinensern.“
Hoffnungsleer, frustriert, illusionslos, nervös vom Eingeschlossensein in
die angebliche Autonomie, die in Wahrheit die Abhängigkeit von Israel nur
vorangepeitscht hat. Dass die ruhige Atmosphäre jederzeit umschlagen kann
„in Gewalt und Blutvergießen“, habe man am Besuch von Frankreichs
Regierungschef Lionel Jospin erkennen können: „Aus dem Nichts kam es
plötzlich zu diesem Steinhagel. Das kann jederzeit wieder hoch kochen.“ Der
palästinensische Flickenteppich Gaza und Westbank ist ein Pulverfass, an
dessen Lunte die Einwohner zündeln – weil sie nichts Besseres gelernt haben.
Wenn Israel bis Juli seine Truppen aus Südlibanon abzieht, kann das nach
Ansicht von Hass auch den Effekt haben: „Die Palästinenser werden denken,
Israel gibt nur dann klein bei, wenn man einen Guerilla-Krieg anzettelt.“
Manchmal verlässt sie ihren Logenplatz mit Blick auf das palästinensische
Leben und fährt zum Yoga-Unterricht nach Jerusalem – oder nach Tel Aviv, zu
ihrer Mutter ins Altersheim und in ihre Wohnung, die aber lediglich als
Abstellkammer für Möbel fungiert. Erst gestern war sie dort – und gleich
erschlagen von der Harmlosigkeit des Ortes, der nur 70 Kilometer von
Ramallah entfernt liegt. Denn in Tel Aviv kriegt man vom Hunger der
Palästinenser auf Freiheit nichts mit, es ist eine Trugschlussstadt ohne
Erinnerung, in der kein einziger Palästinenser lebt, sondern „diese
aufgeklärten jungen Linken, die gerne die Westbank zurückgeben, um endlich
Ruhe zu haben. Dass Israel dafür mehr tun muss, kriegen sie in ihrer
Seifenblase aus Clubs und Strand und Bars nicht mit.“ In Tel Aviv könnte
Amira Hass nicht mehr leben.
Sie kann keinen Spaß haben in einer Stadt, die eine halbe Stunde vom
Gaza-Knast entfernt liegt und wo sie Menschen kennt, die keinen Spaß
besitzen am Leben und noch nicht mal ein Telefon. Sie vermisst den Streifen
sogar, denn da war der Zusammenhalt „enorm“. In Ramallah dagegen ist größere
Bewegungsfreiheit und also Anonymität, hier können die Menschen in andere
Autonomiestädte reisen – und sogar ausbüxen. Sich nach Israel schmuggeln,
wie der junge Kellner Mustafa, der Amira Hass an diesem Abend den Salat und
das Bier bringt und sie als „die schöne Frau von Gaza“ bezeichnet. Er sei in
„Tel a-Rabia“ gewesen, erzählt er mit einem klandestinen Blick, wobei das
arabische „a-Rabia“ das hebräische „Aviv“ meint, „Frühling“ auf Deutsch. Den
ganzen Abend war der Bub am Strand von Tel Aviv, der Stadt, deren Namen er
vor Verachtung noch nicht mal ausspricht. Und auch dort nur in arabischen
Clubs im Stadtteil Jaffa, denn „ich hasse hebräische Musik“. Über Kellner
wie Mustafa berichtet Amira Hass selten, „weil ich nicht zur Unterhaltung
schreibe“. Sie konzentriert sich auf den Mangel im Leben der Palästinenser –
seit dem Vertrag von Oslo 1995 ist deren Lebensstandard um 25 Prozent
gesunken. Und darauf, dass sie sich nach Demokratie sehnen. Mit Arafat gehe
das nicht, findet Hass, er sollte würdevoll abtreten wie Mandela: „Der Mann
ist einfach ein zu schwacher Gegenpart für Israel.“ Mit Arafat würden die
Palästinenser nie eine „Lösung in Würde“ bekommen.
Zur Zeit recherchiert Hass eine Artikelserie über die komplizierten
Bedingungen, unter denen Palästinenser in den Ostteil Jerusalems dürfen, und
wie es Israel geschafft hat, die Westbank in ein unübersichtliches Puzzle
aus Zonen A, B und C zu dividieren – was in den Augen von Amira Hass nur das
eine Ziel verfolge: „Israel wird nie den Palästinensern volle Autonomie
überlassen, immer wird es kontrollieren.“ Unerbittlich hält sie ihre Finger
auf offene Wunden, benennt Ungerechtigkeiten auf beiden Seiten und schont
niemanden. Sie lässt sich nicht von Würdenträgern und Verlautbarern
umgarnen, geht nie auf Pressekonferenzen oder zu Politiker-Gesprächen, die
als Hintergrund getarnt sind und doch nur gefällige Berichterstattung als
Ziel haben. Amira Hass sagt, sie sei nicht die Korrespondentin der „Royal
Family“, womit sie Arafat und seine jasagenden Pikkolo-Arafats meint,
sondern sie schaut dem Volk aufs Maul. Weswegen der Pressesprecher der
israelischen Armee Hass so sehr hasst, dass er ihr gar nichts mehr sagt: In
einem Brief schrieb er, er werde ihr keine Auskünfte mehr geben, da sie
nicht „objektiv“ berichte. Hass hatte Palästinenser zu Wort kommen lassen,
die vom israelischen Geheimdienst Schabak gefoltert worden waren, sie hatte
von den Schikanen berichtet am Checkpoint Erez, wo israelische Soldaten
Palästinensern die Reise zu den Baustellen nach Israel verweigert hatten.
Drohung per Telefon
Aber auch die palästinensische Autonomiebehörde und ihr seniler Chef
Arafat sind nicht erfreut über die israelische Schnüfflerin. Die in
Leitartikeln darauf hinweist, dass die Palästinenser über kein Land
verfügen, aber über einen mit EU-Geld gebauten Flughafen, der in Wahrheit
niemandem nutzt außer dem Vielflieger Arafat, und einen bürokratischen
Schwellkopf von 100 000 Angestellten – die „nichts zu tun haben, außer
zu schikanieren“. Erst im September rief ein Polizei-Offizier bei Hass in
Ramallah an und flüsterte: „Dein Leben ist in Gefahr, pass auf!“ Später
sprach Hass mit dem Polizisten auf der Wache, und er räumte ein, die Warnung
auf Anweisung des Büros von Arafat überbracht zu haben. Hass hatte darüber
berichtet, dass dessen Autonomiebehörde Zehntausende von überflüssigen
Polizisten rekrutiert, die 264 Dollar verdienen (was bei einem
Durchschnittsverdienst von 50 Dollar ein Vermögen ist) und der Herrscher
sich so seine Claqueure sichert. Dankbar für ihre Berichte sind andererseits
Palästinenser wie jene Familie, deren krebskrankem Kind die Behandlung in
einem israelischen Krankenhaus verweigert worden war. Kurz nachdem Hass über
den Fall berichtete hatte, bekam die Familie die Erlaubnis zur Einreise nach
Israel. „Wenigstens manchmal“, sagt Hass, „kann ich helfen.“ In derselben
Demut spricht sie über den kommenden Mai: Für ihre Arbeit wird sie dann vom
International Press Institute
in Boston den World Press Hero-Preis verliehen bekommen. Einem
befreundeten Palästinenser hat sie gestern zugeflachst: „Mit euch zu leben
ist so gefährlich, dass man mir den Heldenpreis gibt.“
Flaneure als Monteure
Von wegen gefährlich. Vor kurzem blieb mitten in der Nacht das Auto von
Amira Hass stehen, ganz nah an einem riesigen Flüchtlingscamp im Süden von
Gaza – und ausgerechnet an dem Tag, an dem israelische Soldaten einen
Hamas-Aktivisten erschossen hatten. Hass winkte Flaneure herbei, und im
Handumdrehen war sie von zig Dutzend junger Männer umringt. Gemeinsam
schoben sie ihre alte Karre in eine nahe gelegene Tankstelle, wo man ihrem
Arabisch den hebräischen Akzent anmerkte. Sofort sprachen alle in ihrer
Sprache – die sie meistens in israelischen Gefängnissen gelernt hatten –,
boten ihr Kaffee an und wollten wissen, wann endlich die Gazagrenze geöffnet
werde. „Nach einer halben Stunde beugte sich so ungefähr das halbe
Flüchtlingscamp über meinen Motor.“ Kurz darauf war der Wagen wieder fit,
Geld wollten die Männer, die noch nie mit einer israelischen Zivilistin
geredet hatten, nicht annehmen. Sie winkten ihr und riefen auf Wiedersehen.
Auf ihrer Rückfahrt nach Ramallah hörte Amira Hass Radio. Der
Nachrichtensprecher verlas eine Warnmeldung der israelischen Polizei: Jeder
Israeli, der in dieser Nacht durch palästinensisches Territorium fahre,
riskiere sein Leben.