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ERLANGEN. – 62 Jahre nach der
Plünderung des Betsaales in der Reichspogromnacht von 1938 kehrt
jüdisches Gemeindeleben nach Erlangen zurück. Gestern nahm die
Israelitische Kultusgemeinde feierlich eine eigene Thorarolle in
Gebrauch und weiht zugleich den frisch renovierten Betsaal und die
Gemeinderäume in der Innenstadt ein. Drei Jahre nach ihrer Gründung
vollzog sie damit einen wesentlichen Schritt zu einem vollständigen
religiösen Leben.
Die neue Gemeinde entstand, nachdem
die Stadt Erlangen jüdische Kontingentflüchtlinge aus den GUS-Staaten
zugeteilt bekam. 1997 wurde sie zunächst als Verein gegründet. Im
vergangenen Jahr erhielt sie schließlich auch die Anerkennung des
Bayerischen Landesverbandes Israelitischer Kultusgemeinden, dem weitere
zwölf Gemeinden in Bayern angehören.
In einem Umzug wurde die Thorarolle
unter einem Baldachin durch die Innenstadt zum Gemeindezentrum getragen,
wo sie durch den Fürther Rabbiner Natanael Wurmser ihrer Bestimmung
übergeben wurde. Mit dem Hakafot, dem Tanz mit der Thora, gaben sieben
Männer der symbolischen „Vermählung“ der Gemeinde mit ihrer Thora
Ausdruck. Erstmals wurde aus der Schriftrolle gelesen und der letzte
Satz am Ort ihres Verbleibs ergänzt, bevor sie in den Thoraschrein
eingebracht wurde.
Umworbene Einwanderer
Für die Einwanderer aus Russland,
Moldawien und der Ukraine war dies auch ein religiöser Neuanfang. Sie
haben wohl jüdische Vorfahren, kennen aber keine Feiertagsriten und kein
Gemeindeleben. Ihre Offenheit für Religion versuchen allerdings auch
andere Gruppen zu nutzen. Zeugen Jehovas unternahmen „massive
Missionierungsversuche“ im Übergangswohnheim, berichtet Gottfried
Lindenberg.
Der Ruhestandspfarrer und
evangelische Vorsitzende der fränkischen „Gesellschaft für
Christlich-Jüdische Zusammenarbeit hat sich von Anfang an um die
Neuankömmlinge gekümmert. „Eine riesige Aufgabe“ sei es, die Einwanderer
neu mit den identitäts- und gemeinschaftsstiftenden jüdischen
Traditionen vertraut zu machen, sagt die Vorsitzende der Gemeinde, Rose
Wanninger. Im vergangenen September feierte die Gemeinde erstmals nach
der Pogromnacht wieder ein Laubhüttenfest.
Zum gültigen religiösen Leben
fehlte allerdings noch mindestens eine Thorarolle, denn ohne Thora gibt
es keinen Gottesdienst, und ohne Gottesdienst keine jüdische Gemeinde.
Der Freundeskreis um die Gemeinde, darunter einige Stadträte der
„Grünen“, mahnte nachdrücklich die historische Verantwortung der Stadt
an, worauf die Kommune mit einem Darlehen von 50 000 Mark
die Neubeschaffung dieser wichtigsten Ausstattung förderte.
Zeugenangaben zufolge waren die fünf oder sechs Thorarollen der früheren
jüdischen Gemeinde 1938 in den Keller des Rathauses gebracht worden.
Danach verliert sich ihre Spur.
Eine neue, handgeschriebene
Schriftrolle ist mit 23 000 Dollar extrem kostspielig, denn
sie ist kein Gebrauchsgegenstand, der wie eine Bibel in jeder
Buchhandlung zu erstehen wäre. Sie herzustellen ist eine Wissenschaft
für sich. Für alle Gemeinden in Europa werden Thorarollen in einer
Werkstatt in Straßburg von untadelig frommen Juden geschrieben. Sie
erstellen diese heiligen Kultgegenstände nach festgelegten Regeln,
schreiben mit besonderer Tinte, auf besonderes Pergament aus Kuhhaut.
Die Schriftrollen, die die fünf Bücher Mose des Alten Testaments
umfassen, müssen sehr sorgfältig geschrieben werden, damit kein Jota,
nicht der kleinste hebräische Buchstabe, verändert wird. Ein Jahr lang
schreibt eine Person an einer Rolle.
Zahlreiche Geldgeber haben den
Aufbau der Gemeinde ermöglicht. Der Landesverband Israelitischer
Kultusgemeinden trägt die laufenden Kosten für die Räume. Die Firma
Siemens spendete die Bestuhlung und weiteres Inventar und die Stadt hat
im letzten Jahr 15 000 Mark, die von Privatpersonen und
christlichen Kirchengemeinden gespendet worden waren, verdoppelt. Mit
diesem Betrag wurden die Gemeinderäume renoviert.
Ines Rein-Brandenburg
haGalil onLine
02-04-2000
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