Manche vermuten einen Richtungsstreit
zwischen jüdischen Orthodoxen und Liberalen, andere einen Machtkampf zweier
Männer. Doch hinter dem Rauswurf des Rabbiners Rothschild verbergen sich
auch die Widersprüche von Andreas Nachama
von ANNETTE ROLLMANN
Man solle doch bitte die "Synagoge im
Dorf" lassen. So fordert es ein Leserbriefschreiber in der Januarausgabe der
Zeitschrift jüdisches berlin. Doch spätestens mit der Kündigung des
liberalen Rabbiners Walter Rothschild in der vergangenen Woche scheint die
Synagoge zum Konfliktfeld geworden zu sein und mit ihr die ganze Jüdische
Gemeinde.
In den Gemeinderäumen an der
Pestalozzistraße wird geschimpft und beschimpft, Familien haben längst
aufgehört, sich zu grüßen, und allerorten ist von "Polarisierungen" die Rede
und von "Unverschämtheiten". Doch bei den Auseinandersetzungen geht es nicht
nur um die unterschiedlichen Glaubensrichtungen der Orthodoxen,
Konservativen und Liberalen. Es geht auch um einen Machtkampf zweier Männer,
die seit einem halben Jahr nicht mehr miteinander reden. Auf der einen Seite
steht Andreas Nachama, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlin. Auf
der anderen befindet sich Walter Rothschild, von Nachama einst als liberaler
Rabbi nach Berlin geholt und nun von demselben des Amtes enthoben.
"Erschrocken" nehmen einige
Gemeindemitglieder zur Kenntnis, in welcher Weise Nachama gegen seinen
einstigen Favoriten vorgegangen ist. Manche, wie etwa Hans Rosenthal,
Vorstandsmitglied der eher konservativen Synagoge Rykestraße, spricht gar
"von Verleumdung des Rabbiners Rothschild". Man habe ihm beispielsweise
unterstellt, dass er Männer zum Judentum habe übertreten lassen, die nicht
beschnitten waren. "Dieser Vorwurf musste bereits zurückgenommen werden."
Aber warum die "Ranküne"? Rosenthal und
auch Rothschild vermuten dahinter einen einfachen Grund: Andreas Nachama
will möglicherweise selbst Rabbiner werden. Immerhin befinde sich er sich
seit einiger Zeit in Ausbildung bei einem Rabbiner.
Doch ganz so einfach verlaufen die
Fronten nicht. Auch Rothschild, der vor seinem Berliner Amt auf der
Karibik-Insel Aruba arbeitete, hat sich in der Vergangenheit mit seiner
unkonventionellen Art nicht nur Freunde gemacht. Kritiker werfen ihm vor,
die Gefühle vieler Gemeindemitglieder verletzt zu haben. So wird zum
Beispiel kolportiert, dass er gerne Herrenwitze erzählt und sexuelle
Anspielungen macht. Während eines Gottesdienstes, bei dem es um Fragen der
Sexualität ging, habe er sogar ein Kondom gezeigt. Für Orthodoxe schier
unglaublich, für den liberalkonservativen Rosenthal keineswegs anrüchig: "Es
ist eine Doppelmoral, sich darüber aufzuregen und so zu tun, als hätte man
noch nie ein Kondom in seinem Leben gesehen."
Während sich der orthodoxe Rabbiner der
Jüdischen Gemeinde, Jitzhak Ehrenberg, in den Konlikt nicht einmischen will
und auf das "gute Verhältnis" zu Rothschild verweist, ist Rosenthal bereits
aktiv geworden. Zusammen mit Synagogenvorstand Renate Israel versucht er,
gegen die Kündigung mit einem Protestschreiben anzugehen. In dem Brief
werden dem Rabbiner hervorragende Qualitäten bescheinigt: "Ihm geht es nicht
um scholastische Interpretationen, sondern um die für uns so notwendige
Verbindung von alttestamentarischer Überlieferung mit den Fragen und
Problemen unserer Zeit und des heutigen Judentums."
Elisa Klapheck, die Sprecherin der
Jüdischen Gemeinde, hält sich in der Beurteilung des Konflikts dennoch
zurück. Für sie hat er nichts mit dem Zwist zwischen den religiösen Lagern
zu tun. Für Klapheck handelt es sich eher um "ein Zerwüfnis mit persönlichen
Motiven, das sich in "vielen Etappen entwickelt" hat.
Wie Klapheck weiß auch Rosenthal, dass
es an den liberalen Synagogen der Hauptstadt auch Vorstände gibt, die
Rothschild nicht uneingeschränkt unterstüzten. Gleichwohl sieht Rosenthal in
den Arten des Umgangs einen deutlichen Unterschied. Die Synagoge in der
Pestalozzistraße, in der Andreas Nachama Vorsitzender des Gemeindevorstandes
ist, sei immerhin die einzige der fünf liberalen Synagogen in Berlin, die
Rothschild nicht nur kritisiere, sondern konkret gegen ihn vorgehe.
Kein Wunder also, dass auch Nachamas
Stand zwischen den unterschiedlichen Polen nicht leicht ist. Einerseits ist
er selbst liberal, andererseits macht er mit der Kündigung des Rabbiners ein
Zugeständnis an die konservativen und orthodoxen Kräfte und auch an den
mehrheitlich konservativ und orthodox geprägten Zentralrat der Juden in
Deutschland.
Nachama selbst wurde im vergangenen
Dezember nicht in das Präsidium des Zentralrats gewählt - und auch sonst
niemand aus dem liberalen Berlin. Damit war die bundesweit größte jüdische
Gemeinde erstmals in der deutschen Nachkriegsgeschichte nicht mehr im
Zentralrat vertreten. Nachama sitzt auf der anderen Seite im Führungsgremium
der liberalen "World Union for Progressive Judaism" im "Board of Govenors".
Offiziell fühlt sich die Vereinigung zwar nur für Glaubensfragen für
liberale und Reformjuden zuständig. Doch konservative Juden befürchten, dass
die deutsche Sektion in Wahrheit dem Zentralrat auch als politische
Organisation Konkurrenz machen will.
Eine solche Konkurrenz würde nicht
zuletzt die Existenz der Einheitsgemeinde aufs Spiel setzen können, lauteten
die Befürchtungen bei den Konservativen und im Zentralrat. Der Grund: Im
übrigen Bundesgebiet haben die meisten Gemeinden nur einen Rabbiner - und
der ist zumeist orthodox. Daher fühlen sich die liberalen Juden in
Deutschland vielfach nicht ausreichend vertreten und finanziell
benachteiligt. Auch und gerade deshalb ist der Rabbiner Rothschild für die
Anhänger der liberalen Glaubensrichtung wichtig.
Für Nachama spielt das freilich keine
Rolle. Für ihn ist der Konflikt nach wie vor das Ergebnis "tiefer
menschlicher Verletzungen": "Rothschild kann immer nur Kritik austeilen,
aber nicht annehmen. Der Mann lebt in einer völligen Welt der Illusionen.
Auch jetzt noch glaubt er, dass die Jüdische Gemeinde in Berlin ihn liebt."
Was für Nachama "Verletzungen" sind,
nennen andere anders. Nach Einschätzung des Mitgliedes der Betergemeinde,
Winfried Melchers, führt Andreas Nachama einen Konflikt zu Ende, den sein
Vater, der vor zwei Monaten verstorbene Estrongo Nachama, begonnen hatte. In
der Gemeinde in der Pestalozzistraße war der 81-Jährige Oberkantor.
Aber der "Pavarotti der Synagogen" war
noch mehr: Er war "die Seele der Jüdischen Gemeinde in Berlin". Doch der
alte Herr opponierte heftig gegen den modernen Rabbiner Rothschild, dessen
liberale Ansichten ihm viel zu weit gingen. Schon im vergangenen Jahr wurde
Rothschild deshalb in der Pestalozzistraße mit Kanzelverbot belegt. Der
Streit drehte sich zunächst um "Kleinigkeiten". Der Oberkantor erwartete bei
bestimmten Gebeten, dass sich der Rabbiner, wie es die Tradition
vorschreibt, gen Osten wendet. Rothschild als moderner Gemeindehirte wollte
aber lieber zu den anwesenden Gläubigen blicken.
Dass hinter dem Konflikt zwischen
Andreas Nachama und Walter Rothschild also auch eine Vater-Sohn-Geschichte
steht, drängt sich auf. Obwohl Andreas Nachama den Rabbiner Rothschild
persönlich nach Berlin geholt habe, habe er sich dem Einfluss seines starken
Vaters nicht entziehen können und sich deshalb auf dessen Seite geschlagen,
ist Melchers Eindruck. "Der Konflikt", so Melchers, "trägt seit geraumer
Zeit schon Züge, die wie die Erfüllung einer persönlichen Aufgabe wirken und
offensichtlich die Entfernung und das berufliche Ende von Rabbiner
Rothschild um jeden, aber auch jeden Preis zum Ziel haben", sagt Melchers.
Zudem verfüge Andreas Nachama über zu viele Ämter. Viele Leute seien von der
Gunst der Familie Nachama abhängig.
Hat da der Vorsitzender der Jüdischen
Gemeinde ein persönliches Problem zum Problem der ganzen Gemeinde gemacht
und diese damit nolens volens in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt?
Der Leiter des Moses Mendelssohn
Zentrums, Julius Schoeps, der gleichzeitig auch Mitglied der
Repäsentantenversammlung, dem Gemeindeparlament, ist, will sich inhaltlich
nicht zu der Kündigung äußern. Doch sei es seltsam, dass von den 21
Repräsentanten in der Repräsentenatenversammlung vom 16. Februar 10
Repräsentanten nicht anwesend waren und die Diskussion um den Rabbiner
Rothschild erst nach 22 Uhr stattgefunden habe, ohne zuvor angekündigt
worden zu sein. Zudem hätten von den 11 Anwesenden nur 9 gegen Rothschild
gestimmt. "Das ist alles sehr ungewöhnlich und nicht die feine Art", sagte
Schoeps. "Durch das Handeln von Nachama ist das Amt des Rabbiners an sich
beschädigt worden."
Nachama selbst will in der Uhrzeit und
der Zahl der Anwesenden nichts Ungewöhnliches entdecken. Die meisten
Mitglieder des Synagogenvorstands und der Repräsentantenversammlung
schweigen sowieso zum Thema Kündigung.
Und Rabbiner Rothschild? Der sieht sich
selbst "als Fußball in einem großen Spiel". Es ginge den Aufständischen um
den "seligen Oberkantor" lediglich um Emotionen. "Aber das ist nur eine
kleine Gruppe. Ich bekomme sonst in meiner Arbeit viel Liebe." Rothschild
will kämpfen und weiter als Rabbiner arbeiten. Wie viele ihn tatsächlich in
Berlin lieben, wird sich zeigen.
taz Berlin lokal vom 11.3.2000 - Berlin Aktuell
TAZ-Bericht ANNETTE ROLLMANN
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Andreas Nachama, 48, ist seit
1997 Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Berlin. Er gilt als liberal und
einflussreich und war zuvor Direktor der "Stiftung Topographie des Terrors".
In Berlin gibt es zwei
Gemeinderabbiner. Der orthodoxe
Rabbiner Jitzhak Ehrenberg steht der Synagoge in der Joachimstaler
Straße vor. Der liberale Rabbiner Walter Rothschild
ist für die fünf weiteren liberalen und konservativen Synagogen in der
Rykestraße, der Pestalozzistraße, am Fraenkelufer, in der Oranienburger
Straße und der Synagoge im Altersheim Herbartstraße zuständig.