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Nachrichten
Offenheit
statt Abschottung
Der interessierten
Neugier können und wollen die Juden sich heute nicht mehr durch Abschottung
erwehren. Liokumowitsch verweist mit Stolz auf die Offenheit des
Gemeindeblattes für alle Positionen, auch solche, die die Leitung für
unsinnig oder schädlich hält.
Man kann es auch so
sehen: Die Bereitschaft, solche Grundsatzkonflikte, die früher "in der
Familie" geregelt worden wären, auch vor den Augen des nichtjüdischen
Publikums auszutragen, spricht vielleicht für eine neue Angstfreiheit in
deutsch-jüdischen Angelegenheiten. Wie die jüdische Gesellschaft, so wird
zunehmend auch ihre nichtjüdische Umwelt sich bewusst, dass es in
Deutschland nicht länger ein einziges, sondern, so sagt es Rachel
Salamander, "viele Judentümer" gibt.
Micha Brumlik
lehrt als Professor für Pädagogik in Heidelberg, lebt in Frankfurt und
publiziert vielerorts - von der alternativen taz bis zur offiziösen
Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung. Er ist, wie er selbstironisch sagt,
einer der wenigen "öffentlichen Juden" hierzulande - um gleich hinzuzufügen:
"Wenn ich jemals im Sinne Theodor Lessings so etwas wie jüdischen Selbsthass
entwickeln sollte, dann vor allem gegen meine Existenz als 'öffentlicher
Jude' und 'Dialogpartner'."
Diana Pintos These von
einem neuen "jüdischen Raum" in Europa hält er für ein Luftschloss. Ähnliche
Träume, sagt er skeptisch, hätten die Juden schon einmal auf dem Höhepunkt
der Assimilation geträumt.
Brumlik hat auf seinem
Lebensweg selbst schon "viele Judentümer" durchlaufen. Als Jugendlicher in
Frankfurt hatte er sich einst zur Verwunderung seines Vaters, eines säkular
gesinnten zionistischen Funktionärs, entschlossen, als Orthodoxer zu leben -
koschere Küche, Käppi und Gebetsriemen inbegriffen. Als glühender Zionist
ging er später ins Gelobte Land, um als ebenso rigoroser Antizionist nach
Deutschland zurückzukehren. Heute gehört er zu einem Kreis, der sich für das
Reformjudentum amerikanischer Prägung stark macht. In Frankfurt kann die
Gruppe auf Unterstützung durch die Gemeinde rechnen - jedenfalls solange sie
nicht auf Konfrontationskurs geht.
In den orthodox
dominierten bundesdeutschen Einheitsgemeinden ist die liberale Richtung
freilich immer noch eine Minderheit ohne große Lobby - obwohl die Wurzeln
der reformerischen Bewegung im aufgeklärten deutschen Judentum liegen, für
das große Namen wie Mendelssohn, Geiger, Jacobson und Baeck stehen. Nach der
Vernichtung und Vertreibung seiner tragenden Schichten in der NS-Zeit muss
das liberale Judentum nun gewissermaßen nach Deutschland reimportiert
werden. In München hat sich neben der orthodox orientierten Einheitsgemeinde
unter dem Namen Beth Schalom eine große liberale Gemeinde mit über 400
Mitgliedern gebildet. In Oldenburg und Braunschweig amtiert eine Rabbinerin.
1997 wurde eine Union progressiver Juden in Deutschland, Österreich und der
Schweiz ins Leben gerufen. Im vergangenen Herbst hat dieser argwöhnisch
beobachtete Dachverband beschlossen, gemeinsam mit dem Moses Mendelssohn
Zentrum ein Abraham-Geiger-Kolleg zur Ausbildung reformerischer Rabbiner zu
gründen. Das Projekt will nicht zu weiteren Abspaltungen ermutigen, sondern
traditionellen Gemeinden "eine zeitgemäße Form des Judentums" anbieten. "Die
Union progressiver Juden", heißt es, "ist entschlossen, unser Kolleg zu
einem Zentrum der Inspiration zu machen und zu einem Zeichen für den Willen,
das progressive Judentum in Deutschland wieder zu etablieren."
Dies sind erste
Anzeichen einer Pluralisierung des jüdischen Lebens. Sie zu einer veritablen
"Renaissance" zu deklarieren, hält Micha Brumlik allerdings für voreilig.
Vor gut zwei Jahren hat er eine Reihe junger Juden eingeladen, über ihre
Zukunft in Deutschland nachzudenken. Den Anlass zu dieser Umfrage bot die
Rede des israelischen Präsidenten Weizmann bei seinem Deutschland-Besuch
1996. Weizmann pries zwar das neue, demokratische Deutschland, aber
schließlich forderte er doch im alten Stil die Juden auf, nach Israel zu
kommen. Die Selbstzeugnisse der 19- bis 38-Jährigen, die Brumlik in seinem
Buch 'Zuhause, keine Heimat?' gesammelt hat, künden von einem erstaunlichen
neuen Selbstbewusstsein.
Wohlmeinende Versuche
von israelischer Seite, jüdisches Leben in Deutschland für illegitim zu
erklären, werden ebenso entschieden zurückgewiesen wie die zudringliche
Umklammerung alles Jüdischen durch die stetig wachsende Schar der
einheimischen "Philos", die Gemeindehäuser und Synagogen belagern. Ohne
Furcht vor Vereinnahmung bekennen sich die jungen Juden zu einer deutschen
Prägung - und zur Entscheidung, im Lande zu bleiben. Man mag nach den
fremdenfeindlichen Pogromen der Nachwendezeit zwar nicht für alle Zeiten
ausschließen, dass diese Entscheidung vielleicht doch einmal revidiert
werden könnte. Allerdings - würde man nicht eine fatale "jüdische
Opferidentität" pflegen, ließe man von solcher Ungewissheit seine
Selbstdefinition bestimmen?
Einigen Menschen passt es nicht,
wenn Juden aus der Opferrolle fallen
Es ist ein
Leichtes, sich deklaratorisch von dergleichen loszusagen. Aber leider gibt
es eine Reihe von Menschen, denen es überhaupt nicht in den Kram passt, wenn
Juden in Deutschland aus der Opferrolle fallen. Iris W. hat am Abend vor
unserem Gespräch erfahren, dass in einer Diskussionsgruppe im Internet ein
apokalyptisch predigender Text aufgetaucht ist, in dem zur "Ausrottung" und
"Auslöschung" der Betreiber von ha Galil onLine aufgerufen wird.
Iris W. betreut bei
diesem Anbieter die Berliner Seite: The Jewish Site of Berlin. Der Autor der
Verwünschung gibt sich jüdisch, aber die netzerfahrenen Freunde von Iris W.
vermuten hinter seinem Pseudonym einen Neonazi, der es auf die erblühende
jüdische Net-Community abgesehen hat. Der Unbekannte lanciert seine Beiträge
in Diskussionsforen für jüdische Themen. Er klinkt sich mit harmlosen Fragen
in eine Debatte ein, um dann schließlich die nichtsahnenden Teilnehmer mit
Hassbotschaften zu überschütten.
Die Attacke zielt auf
eine neue jüdische Öffentlichkeit, die in jüngster Zeit starken Aufwind hat.
HaGalil entstand vor vier Jahren als Folge einer heftigen E-Mail-Debatte
nach dem Attentat auf Jitzhak Rabin. Heute zählt man monatlich über 750.000
Zugriffe auf die Website, ein großer Erfolg für ein nichtkommerzielles
Unternehmen dieser Art.
Für jemanden, der wie
Iris W. seinen Lebensunterhalt mit Stadtführungen verdient, ist eine solche
anonyme Drohung schlafraubend. Sie wird sich eine Weile lang wie eine
wandelnde Zielscheibe fühlen, wenn sie Besucher etwa durch die
"Emanzipationsgeschichte Berliner Jüdinnen - von der ersten Münzmeisterin
zur ersten Rabbinerin" führt. Iris W., in Deutschland geboren, ist die
Tochter eines jüdischen Vaters, der im Versteck überlebt hat, und einer
nichtjüdischen Mutter. In Amerika konnte sie bei einem orthodoxen Rabbiner
zum Judentum konvertieren, was einen hiesigen Kollegen strenger Observanz
nicht davon abhielt, sie als "Bastard" zu bezeichnen. Sie gehöre nicht zu
den Leuten, sagt sie mit gehörigem Sarkasmus, "die plötzlich konvertieren
wollen, nachdem sie reihenweise Holocaust-Memoiren verschlungen haben". Iris
W. hat sich ein profundes historisches und theologisches Wissen über die
jüdische Religion erarbeitet, sie ist nicht leicht einzuschüchtern.
Sie ist es gewohnt, dass
man sich über ihre blonden Haare wundert. Nur manchmal fragt sie sich, ob es
wirklich einen Sinn hat, sich der gnadenlosen Folkloreleidenschaft des
"judaisierenden Milieus" für ein bestimmtes Bild vom alten jüdischen Berlin
in tapferer aufklärerischer Absicht entgegenzustemmen: "Wenn ich eine Tour
mit dem Thema 'Ostjuden im Scheunenviertel' anbiete, kommen die Massen. Wenn
ich durch das weniger malerische 'jüdische Wilmersdorf' führen möchte, muss
der Termin meist ausfallen, weil keiner kommt."
Im Dezember ist zum
Online-Dienst und zu den Führungen ein drittes Projekt hinzugekommen -
Golem, ein "europäisch-jüdisches Magazin", herausgegeben von
der Berliner Künstlergruppe Meshulash, zu der auch Iris W. gehört. Diana
Pinto mit ihrem Traum vom neuen europäischen Judentum ist durch zwei
Beiträge vertreten. Sie ist offenbar die intellektuelle Mentorin des
Unternehmens. In der ersten Nummer geht es, was Wunder, vor allem um
Probleme der Selbstdefinition. Eine Frage zieht sich durch fast alle
Beiträge: "Wer ist Jude?" Eine sehr alte Frage, und es gibt bekanntlich auch
schon reichlich unvereinbare Antworten auf sie.
Arthur Hertzberg, der
große alte Mann der amerikanisch-jüdischen Gelehrsamkeit, hat sein neues
Buch, das in Kürze auf Deutsch erscheinen wird, ebenjener Frage gewidmet.
"Wenn die Orthodoxie also nicht imstande ist, die Kontinuität des Judentums
zu gewährleisten, wer dann? In den letzten zweihundert Jahren war der
Pluralismus das einigende Prinzip des modernen Judentums... Juden können
sich nicht in Frieden lassen, weil sie die Erben langer Generationen von
Vorfahren sind, die sich nie darüber einig werden konnten, welche
Verpflichtungen ein Jude eigentlich zu erfüllen hat." Ob es hier überhaupt
neue Antworten geben kann - das ist am Ende vielleicht gar nicht so wichtig
wie die höchst wundersame Tatsache, dass die berühmte alte Frage jetzt auch
in Deutschland von vielen Juden neu gestellt wird.
· ·
Bernard Wasserstein: Europa ohne Juden
Das europäische Judentum seit 1945;
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999; 388 S., 75,- DM
· · Diana Pinto: Europa - ein neuer "jüdischer Ort"
in: Menora. Jahrbuch für deutsch- jüdische Geschichte 1999;
Philo-Verlag, Berlin 1999; 386 S., 39,80 DM
· · Micha Brumlik (Hrsg.): Zuhause, keine Heimat?
Junge Juden und ihre Zukunft in Deutschland;
Bleicher-Verlag, Gerlingen 1998; 216 S., 28,- DM
Unter www.zeit.de/links/
erhalten Sie weitere Informationen zum Thema.
Artikel zu diesem Thema:
DIE ZEIT 2/2000: Nach 1945 schien ein
Wiederbeginn
jüdischen Lebens in Deutschland undenkbar
Links zu diesem Thema:
© beim Autor/DIE ZEIT
2000 Nr. 2
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