"Bei der Musik", so die
Initiatorin und treibende Kraft des "Orpheus Trust" Dr. Primavera Gruber,
"begann die kritische Aufarbeitung des Nationalsozialismus, verglichen mit
anderen Disziplinen wie etwa der Literatur, sehr spät". Und obwohl
spätestens seit der Waldheim-Affäre 1986 ein gesamtgesellschaftliches
Bewusstsein über die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der speziellen
österreichischen Rolle besteht, fand Gruber noch 1996 die Musik als ein
unbearbeitetes Forschungsgebiet, mit dem sich kaum jemand auseinandersetzen
wollte. Nicht einmal das Musikinformationszentrum, eine öffentliche
Einrichtung, die den Auftrag hat, lebende Komponisten aus Österreich zu
fördern, wollte sich in dieser Richtung engagieren. Der damalige
Sektionschef Temnitschka, dem Gruber von diesem Manko unterrichtet hatte,
ermutigte sie zur Gründung des Orpheus Trust - "Sie haben doch schon das
Klangforum in Wien aufgebaut. Tun Sie auch in diesem Bereich etwas."
Den inhaltlichen
Ausgangspunkt bildete das 1996 erschienene Buch "Orpheus im Exil", das einen
ersten Überblick über die vertriebenen österreichischen Musikschaffenden
gegeben hat. Ungefähr 600 Personen sind darin angeführt, und bei einem Teil
wussten die Autoren nur die Namen und die wichtigsten Eckdaten. Für
Primavera Gruber war das ein erster Aha-Effekt: "So viele sind das und so
viele unbekannte Namen." Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht absehbar, dass
Recherchen die Zahl der betroffenen Musikschaffenden, zu denen nicht nur
Komponisten sondern auch Interpreten, Dirigenten, Musikwissenschafter und
-publizisten gezählt werden, in nur drei Jahren verfünffachen sollten.
Die namentliche
Erfassung ist Kernstück der Personendatenbank mit biographischen
Informationen zum Musikschaffen, der Exilgeschichte und der primären wie
sekundären Bibliographien. "Das wichtigste Kriterium zur Aufnahme in die
Datenbank", erklärt Gruber, "ist die Verfolgung, die nicht nur jüdische
Musikschaffende betroffen hat, wenngleich ich annehme, dass rund 95 % der
Vertriebenen Juden sind". Der Begriff "entartete Musik" umfasste
schliesslich sowohl die Herkunft von jüdischen Autoren, als auch eine
bestimmte Stilrichtung. Zur Erhebung der Lebensgeschichte werden
Audiointerviews mit den überlebenden Musikschaffenden, mit deren
Hinterbliebenen oder Zeitzeugen gemacht, die transkribiert, ausgewertet und
archiviert werden. Die erste Publikation mit einer Auswahl von
Lebensgeschichten von nach Israel geflüchteten Musikschaffenden wird
nächstes Jahr erscheinen. In diesem Buch wird auch die Frage nach dem
Kulturtransfer gestellt: welchen Beitrag haben die nach Israel
ausgewanderten Musikschaffenden dort geleistet, und umgekehrt, wie war die
Rückwirkung auf Österreich, und welche Relevanz hat das auf internationaler
Ebene? Initiatorin Primavera Gruber betont, dabei "nicht die ‚Opfer'
dokumentieren", sondern bewusst machen zu wollen, welches Potential diese
Musikschaffenden hatten, und welchen Verlust ihre Vertreibung bedeutete.
Geographisch nimmt der
Orpheus Trust eine Eingrenzung nach dem Geburtsort sowie dem Zuzug nach der
Geburt vor (bis 1918 das Gebiet der Donaumonarchie, danach die Republik
Österreich). Gruber: "Jemand, der vor 1918 in Lemberg geboren wurde und dort
geblieben ist, zählt dazu, wenngleich die Datenerhebung dazu sehr schwierig
ist". Ein zweites zentrales Archiv stellt die Werkdatenbank dar. Diese
Datenbank hat einen großen Praxisbezug. Hier wird bei Kompositionen die
Besetzung, Urheberrechte, Aufbewahrungsort der Noten, die Rezeption etc.
festgehalten. Bei Musikern und Dirigenten werden das Repertoire,
Tonaufnahmen, Dokumentationen etc. erhoben. Die Datenbanken enthalten
Informationen zum Rechtsnachfolger bzw. Werknutzungsberechtigten, Kritik,
Programmzettel etc.
Ob sich daraus bereits
Erfahrungen hinsichtlich Restitution ergeben haben? Dazu fehlen laut Gruber
die entsprechenden Recherchen. Im Vergleich zu anderen Kunstrichtungen sei
Musik immateriell, und werde erst durch Speicherung auf Tonband oder Platte
gegenständlich. Die Musikverlage wären unter dem Nationalsozialismus zum
Teil verpflichtet gewesen, die Werke zu vernichten. Am ehesten, vermutet
Gruber, könnte man bei der Unterhaltungsmusik etwas finden. Da wären oft
populäre Stücke auch den Krieg über gespielt, unter anderem Namen
veröffentlicht, und zumeist keine Tantiemen bezahlt worden. Die Frage nach
den Tantiemen ist besonders bei "gemischten" Autorenduos von Interesse, wo
ein Autor verfolgt wurde und flüchten musste, der zweite aber nicht.
Nicht zuletzt aufgrund
der vielen offenen Fragstellungen ist Orpheus Trust-Gründerin Primavera
Gruber die Vernetzung der einzelnen Archive wichtig, und sie strebt die
Gründung eines Netzwerkes aller mit NS-verfolgter Musik befassten
Institutionen an. Das kleine Büro des Orpheus Trust dient seinerseits
bereits jetzt als Informationsstelle und Archiv für Musiker, Veranstalter,
Forscher und Studierende. Langfristig sollten die Informationen auch via
Internet zugänglich werden. Für die Zukunft ist der weitere Ausbau der
Datenbank sowie die Herausgabe eines Lexikons geplant. Letzteres würde einen
Forschungsaufwand für Grundlagenforschung von mindestens drei Jahren
erfordern, wofür es derzeit kein Geld gibt. Das mit dem Geld ist überhaupt
so eine Sache: Eine fundierte finanzielle Grundlage hat der Orpheus Trust
auch im vierten Jahr seines Bestehens noch nicht erhalten. Das hat
einerseits die ständige finanzielle Bedrohung zur Folge, andererseits können
vorliegende Materialen mangels Arbeitskräften nicht aufgearbeitet werden.
Gäbe es eine entsprechende Finanzierung, so könnte die Zahl der Datensätze
in der Werkdatenbank in kürzester Zeit verdreifacht werden. Hindernisse
finden sich aber auch bei der historischen Recherche. So hatte Primavera
Gruber den Versuch einer Topographie vertriebener Musikschaffender im 7. und
8. Wiener Bezirk unternommen und dabei 1200 Musikschaffende neu entdeckt.
Eine weitere Zusatzrecherche wird aber durch monatelange Wartezeiten auf dem
Meldeamt verzögert.
Zusätzlich zur
Archivarbeit organisierte der Verein allein im Vorjahr 35 Veranstaltungen:
Vorträge, Symposien, Ausstellungen und natürlich Konzerte, bei denen jeweils
die Musikschaffenden selbst sowie deren Werke im Vordergrund stehen. Dabei
wird die Zusammenarbeit mit möglichst unterschiedlichen Veranstaltern
angestrebt, um mit unterschiedlichen Publikumssegmenten in Berührung zu
kommen. Damit kann man bei den Veranstaltern und ihrem jeweiligen
Stammpublikum das Bewusstsein wecken, dass es vertriebene Musik überhaupt
gibt. Bei der ebenfalls bestehenden Zusammenarbeit mit der Universität für
Musik geht es vor allem um das Weitergeben von Wissen um Werke und
Komponisten an die Studierenden, die sie im Universitätsbetrieb nicht
erhalten.
Alle zwei Jahre gibt es
einen großen thematischen Schwerpunkt. Heuer steht Karl Weigl (1881-1949),
ein Zeitgenosse Arnold Schönbergs, der aber fast völlig in Vergessenheit
geraten ist, im Mittelpunkt. Mit Schönberg verband Weigl eine einjährige
Zusammenarbeit in der Vereinigung Schaffender Tonkünstler, die 1904/05 das
Wiener Publikum mit avantgardistischer Musik konfrontierte. Weigl verliess
dann aber die moderne und revolutionäre Stilrichtung, um der Tradition
Gustav Mahlers zu folgen, dessen Assistent er wurde. Weigl's Werk umfasst
Kammermusik, Symphonien, Lieder sowie Chormusik, gespielt unter Wilhelm
Furtwängler, von den Wiener Philharmonikern und anderen. Der Orpheus Trust
thematisiert und würdigt Weigl mit einer ganzen Reihe von Vorträgen und
Konzerten in Österreich.