Nachrichten
Demonstration am 29. Januar 2000:
Kein Freispruch für Deutschland!
Gegen die
antisemitische 'Normalität' in Berlin
Am 27. Januar 2000 soll im Rahmen einer
Gedenkveranstaltung der symbolische Baubeginn für das zentrale
Holocaustmahnmal in Berlin stattfinden. Für den 29. Januar 2000 rufen die
rechtsextreme "Bürgerinitiative gegen das Holocaustmahnmal" und das
"Nationale Aktionsbündnis Berlin" unter dem Motto "Gemeinsam für ein neues
Deutschland" zum Aufmarsch gegen den Bau des Mahnmals. Auch die
"Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD)" und das "Nationale
Infotelefon" (NIT) mobilisieren ihre Anhängerschaft zum "Marsch auf die
Reichshauptstadt".
Das "Schandmal" habe den Zweck, so die
Nazis in ihrem Aufruf, "dem deutschen Volk die Würde zu nehmen". Im Internet
wird mit einem Bild geworben, auf dem ein Bulldozer ein Stelenfeld einreißt,
das dem geplanten Mahnmal nachempfunden ist!
Die Hetze der Neonazis und ihr erneuter
Aufmarschversuch in Berlin reihen sich ein in ein gesellschaftliches Klima,
das zunehmend durch die aggressive Abwehr der Erinnerung an die
NS-Verbrechen, ein neues nationales Selbstbewusstsein und die immer
unbefangenere Artikulation antisemitischer Ressentiments in der
Öffentlichkeit gekennzeichnet ist.
Deshalb rufen wir unter dem Motto "Kein
Freispruch für Deutschland - gegen die antisemitische Normalität" ebenfalls
für den 29. Januar 2000 zu einer Gegendemonstration auf. Wir wollen uns dem
braunen Mob entgegenstellen und ein Zeichen setzen gegen jene deutsche
"Normalität" der Berliner Republik, in der Nationalismus, Antisemitismus und
Rassismus allgegenwärtig sind!
Zeigen wir, dass Nazis und
Antisemiten nicht ungestört bleiben! Ob in den Köpfen oder auf der Straße:
Rassismus und Antisemitismus muss konsequent entgegengetreten werden!
Anzeige
Aktuell:
http://www.nadir.org/nadir/initiativ/aab/2000/0129/index.html
Der Antisemitismus
der extremen Rechten ...
Auch für den Antisemitismus gab es
1945 keine "Stunde Null". Judenfeindliche Propaganda und Übergriffe haben
die Geschichte der Bundesrepublik von Beginn an begleitet. Seit der
sogenannten Wiedervereinigung zeichnet sich aber eine neue Qualität des
Antisemitismus in Deutschland ab: Vor dem Hintergrund eines allgemeinen
Rechtsrucks und eines erstarkenden Nationalismus sind antisemitische
Straftaten von 1990 bis 1995 um 500% gestiegen!
Allein 1994 registrierte der
Staatsschutz offiziell 1.366 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund,
wobei von einer enormen Dunkelziffer ausgegangen werden muss. Laut Statistik
werden gegenwärtig jede Woche ein bis zwei jüdische Friedhöfe in der
Bundesrepublik geschändet.
In Berlin kam es in letzter Zeit
zu einer neuerlichen Welle antisemitischer Übergriffe (vgl. die Chronik
in diesem Aufruf). Jüngster Höhepunkt war die Schändung des jüdischen
Friedhofs in Weißensee am 3. Oktober letzten Jahres: Während sich die
Nation am "Tag der deutschen Einheit" am Brandenburger Tor selbst
feierte, zerstörten Antisemiten 103 Grabsteine; gleichzeitig wurden das
Mahnmal auf der Putlitzbrücke in Moabit und das Brecht-Denkmal in Mitte
mit Hakenkreuzen und SS-Runen beschmiert. |
|
Ein Steinmetz, der daraufhin
unentgeltlich beschädigte Grabsteine reparierte, erhielt Mitte November die
Quittung für seine Unterstützung: Nach Drohanrufen wurden rund 150
Grabsteine in seinem Materiallager von bislang Unbekannten zerstört.
Die Reaktionen darauf
sind die gewohnten: Verharmlosung, Relativierung, Entpolitisierung.
Innensenator Werthebach redet von "blindem Vandalismus", Bürgermeister
Diepgen reagiert "zornig und empört", der Staatsschutz ermittelt wie
immer in alle Richtungen. Denn nach Meinung der Berliner Behörden und im
übrigen auch der links-alternativen "tageszeitung" ist keineswegs klar,
ob diese Vorfälle einen antisemitischen Hintergrund haben... |
|
... und der bürgerlichen Mitte
Antisemitismus ist aber längst nicht
auf politisch isolierte Randgruppen beschränkt, sondern fest in der
deutschen Gesellschaft verwurzelt. Laut Umfragen können rund 20% der
Bundesbürger als antisemitisch eingestuft werden, bei weiteren 30% sind
Reste antisemitischer Einstellungen zu finden. 41% der Deutschen meinen,
Juden hätten zuviel Einfluss auf die Wirtschaft und 38% denken, die Juden
versuchten aus der NS-Vergangenheit ihren Vorteil zu ziehen und die
Deutschen dafür zahlen zu lassen (Quelle: FORSA-Institut, Dezember 1998).
Über den Schrecken der
nationalsozialistischen Judenvernichtung hinweg hat sich ein Antisemitismus
am Leben gehalten, dessen Kern der jüdische Arzt Zwi Rix mit den Worten
"Auschwitz werden uns die Deutschen niemals verzeihen" auf den Punkt
brachte.
Photos:
Nazi-Aufmarsch in München
Nicht trotz, sondern gerade wegen
Auschwitz werden die Opfer von einst erneut zur Zielscheibe des Hasses.
Historisch hat sich die deutsche Nation in Abgrenzung zur jüdischen
Bevölkerung konstituiert. Heute gibt es eine erneute Koppelung von
deutschem Nationalismus und Antisemitismus: Aus einer nationalen
Perspektive erscheinen die Juden als Störenfriede, die allein schon
durch ihre Existenz an die Verbrechen des Nationalsozialismus erinnern
und damit der nationalen Selbstversöhnung, der positiven Besetzung
deutscher Geschichte und deutscher Nation, im Wege stehen.
|
|
Das wachsende Bedürfnis nach nationalem
Selbstbewusstsein und einem Schluss-Strich unter die NS-Vergangenheit -
verbrämt als Rückkehr zur "Normalität" - geht deshalb einher mit steigender
Aggressivität gegenüber jüdischen Menschen. Die alten antisemitischen
Stereotype von der Macht und Geldgier, der Rachsucht und Unversöhnlichkeit
der Juden aufgreifend, stilisieren sich die Antisemiten zu Opfern der Juden,
die die Vergangenheit für ihre Zwecke instrumentalisieren würden.
So ist es kein Zufall, dass sich die
rechtsextremen Parteien in letzter Zeit vor allem auf die Debatten um die
Entschädigungszahlungen für NS-Zwangsarbeiter und um den Bau des
Holocaust-Mahnmals gestürzt haben (die NPD plakatierte im Wahlkampf "Soziale
Sicherheit statt teure Denkmäler", der Bund freier Bürger "Deutsche wollt
ihr ewig zahlen?"), können sie doch angesichts des weit verbreiteten Wunschs
nach einem Schluss-Strich (63% der Deutschen) über die Mobilisierung
antisemitischer Ressentiments mit Akzeptanz in weiten Teilen der Bevölkerung
rechnen.
Walser und die "Normalität" der Nation
Wie weit eine gesellschaftliche
Stimmung, in der sich Rückbesinnung auf die Nation und Judenfeindschaft
verbinden, bereits vorgedrungen ist, zeigte sich exemplarisch in der Debatte
um die Friedenspreisrede des Schriftstellers Martin Walser im Oktober 1998:
Die geladenen Eliten des Landes leisteten Walsers Ausführungen über
Auschwitz als "jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel und Moralkeule"
und seinem aggressiv vorgetragenen Wunsch nach nationaler "Normalität"
stehende Ovationen, während
Ignatz Bubis
(der inzwischen verstorbene Vorsitzende des Zentralrates der Juden in
Deutschland) wegen seiner Kritik an den antisemitischen Untertönen in
Walsers Rede scharf angegriffen wurde und sich dem gerne bemühten Klischee
vom irrationalen, rächenden Juden ausgesetzt sah.
Die anschließende Debatte geriet zu
einem Katalysator antisemitischer Hemmschwellenüberschreitung, die den
verlogenen Betroffenheitsgestus der üblichen Gedenkansprachen
konterkarierte: Im Focus durfte der Rechtsextremist Horst Mahler über die
Macht des Zentralrats der Juden schwadronieren; in der FAZ phantasierte
Klaus von Dohnany (SPD), ob sich die Juden anders verhalten hätten als die
Deutschen, wenn nach 1933 "nur" die Kriminellen, die Homosexuellen und die
Roma ermordet worden wären; der Spiegel veröffentlichte einen Artikel einer
Studentin, die den Juden antideutschen Rassismus vorwarf.
Der Spiegel-Herausgeber selbst, Rudolf
Augstein, hetzte in einem antisemitischen Pamphlet gegen die "Monstrosität"
Holocaustmahnmal, die (jüdische) "New Yorker Presse" und die "Haifische im
Anwaltsgewand" (gemeint sind die Rechtsbeistände ehemaliger Zwangsarbeiter
der Nazi-Diktatur); Augstein beschrieb die Deutschen als Opfer einer
"Stimmungsmache", der schon Konrad Adenauer mit den Worten Ausdruck gegeben
habe: "Das Weltjudentum ist eine jroße Macht."
Kein Wunder, daß alle relevanten
Publikationen des deutschen Rechtsextremismus die Walser-Debatte als
Tabubruch und "Befreiung" der Deutschen einhellig feierten.
Rot-grün: Die neue Auschwitz-Lüge
Das rot-grüne Spektrum hatte in der
Walser-Debatte zumeist geschwiegen oder sogar Verständnis für Walser
anklingen lassen. Bundeskanzler Schröder, der gerne vom "Selbstbewusstsein
einer erwachsenen Nation" spricht, mochte sich nicht einmal von Walsers
Widerlichkeit, Auschwitz werde als "Moralkeule" missbraucht, distanzieren:
"Ich denke, ein Schriftsteller muss das sagen dürfen, der Bundeskanzler
nicht."
Und so ist es z. B., dass auch unter der
rot-grünen Regierung der Kleinkrieg gegen die Überlebenden des NS-Terrors
fortsetzt wird. Bis heute warten die ehemaligen Zwangs- und Sklavenarbeiter,
von denen ohnehin nur mehr ein Bruchteil am Leben ist, auf eine angemessene
Entschädigung ihrer Arbeitsleistung, die maßgeblich zum Reichtum
Deutschlands beigetragen hat. Kanzler Schröder hatte schon in seiner
Regierungserklärung angekündigt, die deutsche Wirtschaft vor "unberechtigten
Ansprüchen" schützen zu wollen, die sich ohnehin nur aus Exportinteressen an
den Entschädigungsverhandlungen beteiligt, und tatsächlich setzt auch
Rot-grün schamlos alles daran, die letzten Überlebenden mit einem Almosen
abzuspeisen - die Opfer deutschen Terrors werden ein weiteres Mal verhöhnt!
Gegen den nationalen Konsens!
So scheint sich ein nationaler Konsens
von Grün bis ganz Rechts etabliert zu haben: Die selbstbewusste Nation
Deutschland soll ihre erneuten Großmachtambitionen ohne lästige
Geschichtspakete am Bein verfolgen können - das ist die "Normalität" der
Berliner Republik!
Über das Ziel herrscht Einigkeit, die
Wege sind verschieden: Während die nationale Rechte über die Verbrechen des
Nationalsozialismus den Mantel des Schweigens auszubreiten versucht und
dabei auch vor offen antisemitischen Ausfällen nicht zurückschreckt,
präsentiert das rot-grüne Spektrum Deutschland als geläuterte Nation, die
gerade aus ihrer Vergangenheit die Berechtigung bezieht, ohne
Einschränkungen in der ganzen Welt militärisch zu intervenieren.
"Das Deutschland, das wir
repräsentieren,
wird unbefangen sein, in einem guten Sinne
vielleicht sogar deutscher sein."
(Bundeskanzler Schröder)
Diese Varianten zeigen sich auch in der
Debatte um das Holocaustmahnmal: Wo sich etwa Rudolf Augstein mit der
Neonazi-Szene in der Ablehnung des "Schandmals" einig ist, das als Stachel
im Fleisch nationaler Identität wahrgenommen wird, bezwecken manche
Befürworter des Mahnmals gerade mit dem Bau einen endgültigen Abschluss
unter die Diskussion um die deutschen Verbrechen. Der mittlerweile wieder
verworfene Plan, neben dem Mahnmal ein Dokumentations- und Forschungszentrum
zu errichten, das sich Genoziden in aller Welt widmen sollte, weist die
Richtung: Das Kapitel Auschwitz ist ein für allemal erledigt, jetzt wendet
sich das selbstbewusste Deutschland den Verbrechen der anderen zu.
Unabhängig von der Frage, ob ein
zentrales Monument tatsächlich die angemessene Art und Weise ist, die
nationalsozialistischen Verbrechen zu vergegenwärtigen: Eine
antifaschistische Linke muss das Projekt eines Mahnmals zur Erinnerung an
die Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen verteidigen - gegen den
antisemitischen Mob genauso wie gegen die nationalen Deutungsversuche der
politischen Entscheidungsträger!
Eine (unvollständige) Chronologie:
Antisemitische Übergriffe in Berlin
The Jewish Site of Berlin /
Nachrichtenarchiv
- September 1997: Auf dem alten
jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee werden 28 Grabsteine zerstört.
-
November 1997: Mehrere Grabsteine auf dem Friedhof in Weißensee werden
umgeworfen. Das Schaufenster eines Geschäftes wird mit einem Davidstern und
"Achtung Jude" beschmiert.
-
Silvester 1997/98: Der Gedenkstein in der Großen Hamburger Straße wird
geschändet; dies wiederholt sich in den Folgemonaten noch zweimal.
-
Mai 1998: Persönliche Drohbriefe an Mitglieder der jüdischen Gemeinde Berlin
häufen sich.
-
August 1998: Ein orthodoxer Jude aus Israel wird am Kurfürstendamm
angepöbelt und bespuckt.
-
September 1998: Das Grab des früheren Vorsitzenden des Zentralrates der
Juden in Deutschland, Heinz Galinski, wird geschändet. Der Bund Freier
Bürger führt eine Kundgebung gegen das geplante Holocaustmahnmal in Berlin
durch.
-
Oktober 1998: Unbekannte treiben ein mit Davidstern und dem Namen
Ignatz Bubis
bemaltes Ferkel über den Alexanderplatz.
-
November 1998: In der Nacht zum 9. November wird (zum wiederholten Mal) das
Mahnmal auf der Putlitzbrücke beschmiert. Der alte jüdische Friedhof in
Prenzlauer Berg wird geschändet.
-
Dezember 1998: Bei einem Sprengstoffanschlag wird das Grab
Heinz Galinskis
fast vollständig zerstört.
-
September 1999: Auf die Ausstellung "Für Juden verboten" wird ein
Brandanschlag verübt. Der ausrangierte S-Bahnwagen der
Jugendgeschichtswerkstatt am Anhalter Bahnhof, in dem die Ausstellung
gezeigt wird, brennt dabei völlig aus.
-
Oktober 1999: Das Bündnis "Bürgerbewegung Neue Wache statt
Holocaustmahnmal", das sich aus Anhängern von Bund freier Bürger,
Republikanern und NPD zusammensetzt, hält am 2. Oktober mit ca. 50
Rechtsextremen vor der Neuen Wache eine Kundgebung gegen das Mahnmal ab. Am
3. Oktober werden auf dem jüdischen Friedhof in
Weißensee nachts 103 Grabsteine umgekippt und zerstört; zeitgleich
werden das Mahnmal auf der Putlitzbrücke, sowie das Brecht-Denkmal vor dem
Berliner Ensemble mit Hakenkreuzen und SS-Runen beschmiert. Wenige Tage
später werden bei einem erneuten Anschlagsversuch Molotowcoctails über die
Friedhofsmauer in Weißensee geworfen.
-
November 1999: Im Materiallager eines
Steinmetz, der unentgeltlich beschädigte Grabsteine auf dem Friedhof
in Weißensee repariert hatte, werden 150 Grabsteine zerstört.
- November 1999:
Todeslisten
kursieren in Berlin, Verfassungsschutz schweigt sich gegenüber den
Betroffenen aus.
-
Silvester 1999/2000: Auf dem Gelände des geplanten Holocaustmahnmals werden
Sichtfenster im Bauzaun und der Informationsturm des Förderkreises mutwillig
beschädigt.
Standing Ovations!
"Der Unterschied zwischen dem
johlenden Mob von Rostock-Lichtenhagen und den 1.200 Applaudierenden in der
Paulskirche besteht lediglich darin, dass die einen Würstchenbuden
aufstellten, wo die anderen ein kaltes Büfett erwartete."
(Tjark Kunstreich)
Demonstration:
29. Januar 2000
11:00 Uhr Rosa-Luxemburg-Platz
BERLIN
Aktuell:
http://www.nadir.org/nadir/initiativ/aab/2000/0129/index.html
haGalil 23-01-2000