Zum Verständnis Bialiks

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Vor 90 Jahren, am 4. Juli 1934 verstarb Chaim Nachman Bialik, der große hebräische Nationaldichter. Der vorliegende Beitrag erschien 1925 in der von Julius Goldstein herausgegebenen Zeitschrift „Der Morgen“, die ein breites Themenspektrum aus aufgeklärt-orthodoxer Sicht bediente. Autor des Beitrags ist Ernst Simon, 1899 in Berlin geboren, Sprachwissenschaftler und Philosoph, der 1928 nach Palästina auswanderte, dort später an der Hebräischen Universität Jerusalem lehrte und neben Martin Buber, Gershom Sholem und anderen dem Brit Shalom angehörte.

Zum Verständnis Bialiks
Aus einer größeren Arbeit über den Dichter

Von Ernst Simon
Erschienen in: Der Morgen Heft 5 (Dezember 1925)

Das Leben

Bialik wurde im Januar 1873, in Radi, einem kleinen Dorf in der Nähe von Zytomir, geboren. Sein Geburtsort liegt im südwestlichen Rußland, nahe der Grenze zwischen der Ukraina und Wolynien. Das Land ist von ganz besonderer Naturschönheit und Fruchtbarkeit; die Juden lebten vor 50 Jahren dort, wie fast überall im Osten, in halbfreiwilligen Ghettis, sich von aller geistigen Berührung mit der Bildung Europas starr absperrend, ganz der praktischen und theoretischen Pflege des Religionsgesetzes hingegeben und beruflich zum größten Teile als Händler oder als Schankwirte tätig. Der kärgliche Lebensunterhalt ward vielfach von den Frauen erworben, um den Männern Zeit und Ruhe für das „Lernen“ der talmudischen Disziplinen zu lassen. Immerhin ist dieses traditionelle Bild des „Ostjuden“ — überhaupt eine dilettantisch verallgemeinernde Bezeichnung! — durch zwei Besonderheiten gerade dieses Volksteiles zu ergänzen, die für Bialiks spätere Entwicklung von Einfluß waren: in dieser Gegend gibt es jüdische Bauern und somit auch bei den andern eine gewisse Naturnähe, und ungefähr hier hat — im Zusammenhang mit der eben genannten Eigentümlichkeit — Israel Baal Schem tob die Bewegung des Chassidismus begründet, der das Gesetzesjudentum, unter Beibehaltung seines halachischen Charakters, durch unmittelbare Naturbeziehung, individuelle Frömmigkeit und mystisch-ekstatische Freude an der religiösen Pflichttat neu zu beseelen suchte.

Bialiks Eltern waren arme, kleinbürgerliche Leute — der Vater, ein geringer Schankwirt, starb früh und ließ die Witwe mit drei unmündigen Kindern zurück. Nun hielt die allerbitterste Not ihren Einzug in das kleine Haus, in dem bisher immerhin eine dürftige Genügsamkeit geherrscht halte. Hunger, Kälte, Enge, Sorge um das Nötigste wurden die täglichen Begleiter der Familie. Diese Jahre haben dem Knaben für immer ihren Stempel aufgedrückt — er vergaß sie nie mehr: für den melancholischen Grundton seiner Lyrik und ihre Richtung auf das Soziale hin sind jene frühen Jugenderlebnisse bestimmend gewesen.

Der Schulbesuch gestaltete sich ebenfalls in der üblichen Weise: zuerst der „Cheder“ (zu deutsch: Zimmer, Kleinkinderschule) mit einem besonders rohen und ungeschickten Lehrer, viel Prügel, wenig Wissen, das hebräische Alphabet, — „Flüche, Schläge, Häßlichkeit, Schmutz und Ekel“, wie Bialik selber es geschildert hat.(1) Später ein besserer Lehrer, und als Gegenstände: der Pentateuch mit dem Kommentar Raschis, die Psalmen und andere, ausschließlich religiöse Bücher. Einige Zeit nach dem Tode des Vaters kommt der Siebenjährige zu dem 73jährigen Großvater, flieht wieder zur Mutter, wird zurückgebracht und — hier reißen die autobiographischen Mitteilungen in Prosa oder Vers zunächst ab. Das Weitere muß man erschließen und zusammenstellen. Es ist etwa das Folgende:

Nach dem Cheder besuchte Bialik die Jeschiwah zu Woloschin, jene talmudische Hochschule, auf der der Jüngling in die eigentümliche Dialektik der halachischen Diskussion (2) tief eingeführt wurde und die er als Mann in einigen seiner Meistergedichte unvergänglich geschildert hat. Um das Wesen dieser Lehrstätten zu verstehen, muß man sich zunächst zum Bewußtsein bringen, daß Mischna und Talmud selbst keine Sammlungen von systematischen Abhandlungen, sondern Sammlungen von Diskussionsprotokollen und deren Kommentaren sind. Diese Diskussion — in der Sprache der Tradition „mündliche Lehre“ genannt — wird in den talmudischen Hochschulen nun fortgesetzt. Ihr Gegenstand ist das Gesetz, weniger seinen Prinzipien nach, als in seine Verzweigungen hinein, die durch die Einbeziehung immer weiterer Gebiete des fortschreitenden und neuer halachischer Regelung bedürftigen Lebens notwendig geworden sind. Man konnte vergleichsweise von juristischen Bestrebungen sprechen, wenn nur nicht dieses jüdische Recht alle Lebensbeziehungen — Essen, Beruf, Ehe, Kleidung, Pfandrecht, Sabbath usw- — gleicher Würdigkeit in seinen Kreis zöge und eben daher auch nicht die Sache eines Gelehrtenstandes, sondern religiöse Pflicht und Lieblingsbeschäftigung des ganzen Volkes wäre. Immerhin: wenn auch nicht um „Jura“, um „Gesetz“ handelt es sich denn doch — und jede Gesetzlichkeit drängt ihrer Natur nach auf ein Rechtssystem hin. Auch die talmudische — aber der entgegengesetzte Drang und Zwang, ihre Systeme wieder aufzulösen, ist stärker — und verwandelt die vorhandenen Kodifikationen des jeweils geltenden Rechtes (Maimonides, Schulchan Aruch usw.) durch neue abändernde Kommentare wieder in die Gestalt der Diskussion zurück.

Der talmudische Lehrstreit ist also noch immer nicht beendet; in der Jeschiwah wird er fortgesetzt, und dort schafft er sich dann auch ein System eigener Art, das freilig häufig zum Selbstzweck mißbraucht wurde: den sogenannten Pilpul. Der versucht, in häufig künstlicher und gezwungener Weise, dasselbe zu leisten, was auch das europäische System leistet: nämlich alle Einzelheiten in ihrem Einheitsbezug und Gesamtzusammenhang herauszustellen. Der Pilpul (zu deutsch: Pfeffer, d. h. Scharfsinn) schlägt Brücken von einer Talmudstelle zur entfernten anderen, kombiniert neue Zusammenhänge und zerstört bisherige, schafft Begründungen und wirft Schwierigkeiten auf, und erweist immer wieder den kontinuierlichen Zusammenhang zwischen Bibelwort und letzter Entscheidung. Er ist gleichsam ein beweglicher und veränderlicher Codex. In ganz paralleler Weise gibt es innerhalb dieses „Lernens“ Ersatz für die völlig fehlenden Hilfsmittel wissenschaftlicher Art. Die mangelnde Beherrschung der Sprache, insbesondere der Grammatik des Hebräischen und Aramäischen, sowie die Tatsache, daß die gesamte hebräische Literatur, außer der Bibel, ohne Vokalzeichen und meist auch ohne jede Interpunktion gedruckt ist, wird durch den talmudischen Singsang, den sogenannten „Niggun“ ersetzt, der Frage und Antwort, Haupt- und Nebensache eindeutig unterscheidet und so eine akustische Interpunktion darstellt. Der Niggun ist ebenso Gegenstand der Überlieferung von Geschlecht zu Geschlecht wie diese ganze „mündliche Lehre“ selber, deren integrierender Bestandteil er ist. Auch Wörterbücher und Konkordanzen fehlen fast gänzlich. An ihrer Stelle hat der jüdische Lehrbetrieb — schon in talmudischer Zeit selbst — immer wieder zahlreiche Menschen hervorgebracht, lebende Lexika, die den gesamten Stoff auswendig beherrschen und auf diese Weise alle Hilfsmittel überflüssig machen. Das höchste Bildungsideal liegt in der Vereinigung pilpulistischen Scharfsinnes mit allseitiger Belesenheit in dieser ganzen, ungeheuer umfangreichen Literatur. Es ist oft genug erreicht worden, auch noch in der Neuzeit, aber natürlich nur auf Kosten anderer Dinge: auf Kosten der profanen Bildung nicht nur, sondern auch der Kenntnis der prophetischen und philosophischen Schriften des Alten Testamentes — die in Ungarn teilweise geradezu verboten waren — der späteren jüdischen philosophischen und poetischen Literatur und selbstverständlich des modernen Hebräisch. Man mußte ein „Mathmid“ (3), ein beständig auf das Talmudstudium conzentrierter Mensch werden, um das Bildungsziel zu erreichen, das im Wissen an und für sich gipfelte und nur sehr selten in dem Streben, Rabbiner zu werden.

Ein solcher „Mathmid“ ist Bialik viele Jahre hindurch gewesen und hat in ihnen sein sehr bedeutendes jüdisches Wissen gesammelt, bis dann, offenbar etwa in seinem achtzehnten Lebensjahre, der Umschwung eintrat.

Äußerlich mag seine Entfernung ans der Jeschiwah mit einem der Gründe zusammen gehangen haben, die im „Mathmid“ als Motive für den Ausschluß aufgezeichnet werden: Karten spielen, abends mit Mädchen sprechen, am Sabbath rauchend angetroffen werden, heimlich den „Führer der Verirrten“ des Maimonides lesen — all dies ist gleich schlimm, gleich unvereinbar mit dem Jeschiwahleben. Innerlich war es so: daß die Natur, die Liebe, die Welt der europäischen und der hebräischen Kultur auf Bialik (wie auf tausende seiner Altersgenossen) als Verführer wirkten: sie brachen aus. Die Thorah, ursprünglich „das Haus unseres Lebens“ und „ein Baum des Lebens für alle, die an ihr festhalten“, war immer mehr in Gegensatz zum „Leben“ getreten. Und als der Zusammenstoß nicht mehr zu vermeiden war, siegte die Außenwelt — das Lehrhaus wurde verlassen und ward öde.

Seit diesem Tage steht Bialik praktisch außerhalb des Gesetzes, völlig außerhalb. Theoretisch trat er nie ganz heraus — wir sehen das noch genauer — sondern blieb „Auf der Schwelle des Lehrhauses“ (4) stehen.

Dieser Schritt machte ihn zum Dichter — und auch, als er längst getan war, wirkte er noch in sein gesamtes Werk hinein. Er kam nach Odessa, fand dort — nach den talmudischen — zwei literarische Lehrer: Achad Haam, den strengen Meister, der die junge zionistische Bewegung — auch Bialik schloß sich ihr an — immer wieder von der Propaganda auf die palästinensische Realität, von der Diplomatie auf die Erweckung der jüdischen Herzen zu lenken suchte, und Mendele Mocher Sforim, den ersten wirklichen Dichter der neuhebräischen Literatur, Meister zugleich der jiddischen Erzählungskunst, den „Großvater“ der ganzen literarischen Bewegung, Schöpfer einer ganz neuen hebräischen Sprachperiode (die dem Jiddischen zugewandt war) und größten Epiker des ostjüdischen Volkes. Der beider Einfluß auf Bialik wird noch im Einzelnen zu reden sein — hier genüge die Feststellung, daß im Volke der Tradition auch der Dichter eigentliche Lehrer braucht und hat, in viel strengerem Sinne Lehrer, als das etwa Merck und Herder für Goethe waren.

Bialik ließ sich an seinem jungen, großen Ruhm nicht genügen, den eine verhältnismäßig kurze Zeit — etwa zehn Jahre — intensiver dichterischer Produktivität begründet hatte. Geschäftliche Tätigkeit, teils als Holzhändler, teils als Organisator jüdischer Bildung: als hebräischer Verlagsbuchhändler, umfangreiche Reisen und eifriges Selbststudium füllten den — inzwischen Vermählten — aus, bis Krieg und Revolution seinem Aufenthalt in Odessa ein Ende machten. Eine Wanderfahrt begann, die eine längere Station in Deutschland brachte — wo sein 50. Geburtstag Anlaß allgemeiner jüdischer Verehrungskundgebungen wurde — und in Palästina ihr Ende nahm. Jetzt lebt der Dichter in eigenem Hause in Tel-Awiw.

Verhältnis zur Sprache

Die Entscheidung zum Hebräischen als lebender Sprache und die Trennung von der Welt der Jeschiwah — dies war ein und derselbe Schritt. Die Orthodoxie alten Schlags verstand den Begriff der „heiligen Sprache“ dahin, daß ihre allgemeine Anwendung verboten sei. Diese Kreise — in Bialiks Jugend noch die ungeheure Majorität — sprachen und schrieben also im täglichen Leben jiddisch. Die Wahl des Hebräischen selber schon war Absage an den alten Geist, war Rebellion — und sie ist das schon vor Bialik gewesen.

Ursprünglich allerdings war die jüdische Lyrik hebräisch und ist es sogar in den Zeiten geblieben, in denen die Sprache des Volkes aramäisch, arabisch oder jiddisch war. Nicht nur die Psalmen, auch die religiösen Hymnen der Geonim im 8. und 9. Jahrhundert, die synagogalen Gesänge Kalirs and der Späteren, die Gedichte der sonst arabisch schreibenden spanisch-jüdischen Sänger: Gabirol, Jehuda Halevy, Abraham Jbn Esra usw. waren in hebräischer Sprache abgefaßt. Auch heute gibt es, bezeichnenderweise, zwar eine jiddische Epik, Dramatik und Essayistik, aber — außer Volksliedern — keine eigentliche jiddische Lyrik. Diese lebt wahrhaft nur im Hebräischen. Und doch war es ein revolutionärer Akt, als zu Beginn und um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Männer der hebräischen Aufklärung, der sogenannten Haskala, nach längerer Pause wieder Hebräisch zu dichten begannen. Der bedeutendste dieser Autoren, Jehuda Leib Gordon, stellt Inhalt und Sprachform dieser, Bialik unmittelbar vorangehenden, Periode am deutlichsten in seiner Person dar. Sein wichtigstes Gedicht „Das Häkchen des Jud“ schildert, wie eine Frau nur deshalb in tiefes Unglück kommt, weil in ihrem Scheidebrief ein Häkchen an dem hebräischen Buchstaben Jud in ihrem Namen fehlt, wodurch die Scheidung ungültig wird. Da ihr Mann nicht mehr aufzufinden ist, um einen neuen, gültigen Scheidebrief zu geben, bleibt sie nach dem formalen Rechtspruch der Rabbinen an ihn gebunden und kann einen anderen, den sie liebt, nicht heiraten. Dies eine Beispiel genüge für dieses ganze Geschlecht der Auflehnung gegen eine Gerichtsbarkeit, die imstande schien, aus formellen Bedenken das Unglück eines Menschenlebens herbeizuführen, und die sich immer aus dem Wortlaut des Bibelverses zu rechtfertigen suchte, obwohl die Unzahl der Deutungen und Hineininterpretierungen dessen wirklichen Sinn längst verfälscht, mitunter in sein Gegenteil verkehrt hatte. Jede jüdische Rebellion hat im Grunde das Gesicht der karäischen, jener jüdischen Sekte, die vom 8. Jahrhundert ab auf trat, die gesamte mündliche Lehre, also die Deutung der schriftlichen (der Bibel) in Midrasch und Talmud ableugnete und sich deshalb „Keraim“, Karäer, Lesende (nämlich die Schrift Lesende, die Deutung nicht Hörende) nannte. Uriel D’Acosta kam in seiner Ketzerei zu den gleichen Forderungen — und sogar ohne von seinen Vorgängern zu wissen — und auch die hebräische Aufklärung stand in ähnlicher Position, freilich nicht ausdrücklich in ihrer Theorie; sondern — und dies ist für die Änderung der Geschichtszeiten etwas überaus Bezeichnendes — durch ihre Sprache. Sie verwarf, die Gesamtentwicklung des Hebräischen seit den letzten Büchern des Alten Testaments, verbot sich den gesamten Wortschatz der Midraschim, Talmuds und späterer Zeiten ebenso wie deren syntaktische Neuerungen, und versuchte mit dem Vokabularium und Satzbau der Bibel ihre gesamten sprachlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Dies sprachliche Karäertum zeigt ebenso wie das halachische die tiefe Paradoxie jeder jüdischen Reform, die reaktionär werden muß, da sie, allerdings meist durch Mitschuld der Orthodoxie, den ursprünglich fortschrittlichen, ja revolutionären Charakter des Gesetzes, insbesondere der mündlichen Lehre, verkennt und — als von ihrem Gegensatz bestimmte Abwehrbewegung — statt historischer Entfaltung die utopische Umkehr zum Urzustand fordert und zu verwirklichen sucht.

Aus dem sprachlichen Gebiet führte dieser Bibel-Purismus nun zu derselben merkwürdigen Erscheinung, der auch die Karäer nicht hatten entgehen können: statt der verworfenen, bisherigen mündlichen Lehre, erstand ihnen, ohne daß sie es merkten, eine neue — da die Worte der Schrift ohne jede Deutung entweder völlig unverständlich, oder unbestimmt, oder in veränderten Zeilen schlechthin unanwendbar waren. Sprachlich bedeutet dies: biblische Redensarten wurden in einen völlig neuen Zusammenhang versetzt, erhielten einen veränderten Sinn, eine neue Färbung. Statt neuer Worte für neue Begriffe hatte man nun alte Worte mit neuen Deutungen. Aus der Not wurde bald eine Tugend: man gefiel sich in der möglichst befremdenden, „modernen“ Anwendung des Bibelverses, der zugleich als Schablone für alle Natureindrücke usw. dienen mußte, da man sich ja der eigenen Formung begeben hatte. Der Stil der „Meliza“ war geboren.(5) Er hat die hebräische Literatur bis zum Auftreten Bialiks beherrscht, das ohne seine Darstellung nicht in voller Bedeutung gewürdigt werden kann.

Bialik ist der erste hebräische Dichter, der der Sprache wieder ohne jedes Dogma gegenübersteht; d. h. erst unter seinen Händen ist sie wahrhaft wieder lebendig geworden. Er steht in der rechten Mitte zwischen zwei Gefahrquellen für die Würde und Reinheit des Hebräischen; der „Meliza“, die vor ihm war, auf der einen Seite — und dem vogelfreien, an keinerlei historische Voraussetzungen gebundenen „Neuhebräisch“ der palästinensischen Straße und mancher Zeitungen auf der anderen Seite, das Neubildungen schafft — manchmal wenigstens im Anschluß an das stammverwandte Arabisch, manchmal ganz wild —, wo es gute alte Ausdrücke gibt, die man kennen zu lernen aber verabsäumt hat, und das unser altes hohes Kulturgut zu einer levantischen Mischung herabzuwürdigen droht. Bialiks Sprache dagegen hat Tradition und Freiheit, und ist also nicht mehr von dem Affekt des Traditionshasses getrübt. In diesem Bezirk ist er „frei, auch von dem Rausch der Freiheit“, wie er einmal seinen jüngeren Genossen nachgerühmt hat.

Die Kernschwierigkeit für den hebräischen Dichter aber liegt noch anderswo: im Gegensatz des Kommentars zur freien Produktivität. Wir Juden sind kein „Volk der Bücher“, sondern das Gegenteil: das Volk des Buches, des einen, der Bibel nämlich — und da wir ja doch tatsächlich sehr viel Bücher haben, so sind diese nicht recht eigentlich „Literatur“, keine selbständigen Schöpfungen, sondern Kommentare zu dem einen Buch: Midraschim, Mischna, Sohar zur Bibel, die Gemara ein Kommentar zur Mischna, der Schulchan-Aruch im Grunde wieder ein Kommentar zum Talmud, und die Kommentare zum Schulchan-Aruch letzten Endes also, zurück die lange Kette, Kommentare zur Bibel selbst. Aber auch die anscheinend selbständigen Schöpfungen — Philosophie und Dichtkunst — tragen viel stärker kommentatorischen Charakter, als man meinen sollte. Des Denkers Rechtfertigung ist der Bibelvers, sein Gegenstand ist das Gesetz — und die Sprache der Dichtkunst ist belastet von der ganzen Geschichte des hebräischen Wortes, das sie gerade gebraucht. Alle Nuancen, die es auf seinem langen Wege von seiner Entstehung oder Rezeption an, durch all die Kommentare, bis hin zum Dichter erhalten hat, trägt es mit sich — und er fügt nun seine Nuance hinzu. Die „Meliza“ hatte das Wort traditionslos verwandelt und verfälscht, das schlechte Neuhebräisch läßt es ebenso traditionslos in der Ecke stehen: der echte hebräische Dichter, der nicht nur ein Künstler, der ein Kenner und Gelehrter der Sprache sein muß, nimmt es behutsam mit all seinem historischen Ballast auf und setzt es vorsichtig in den neuen Zusammenhang hinein; er „entbindet“ gleichsam die Sprache.(6) Dabei den Schwung der dichterischen Intuition, die Augenblickskraft der Eingebung zu bewahren, mag sehr schwer sein — und läßt man wieder solche Vorsicht nicht walten, so mögen zwar Reime entstehen, aber kein hebräisches Gedicht.

In solcher, mit anderen Sprachen ganz unvergleichbaren, Schwierigkeit steht Bialik und — bleibt Sieger. Seine schönsten Verse haben die Flugkraft und die Schwere zugleich. Freilich sind sie eben, fast immer, schwer. Ohne Kenntnis der jüdischen Tradition und ihrer Sprache versteht man sie einfach nicht, oder versteht doch einen geheimen Nebensinn nicht, der dem Dichter manchmal wichtiger ist als der offen ausgesagte. Selbstverständlich sind alle redensartlichen Wendungen der uns entfremdeten hebräischen Phraseologie entnommen. So endet z. B. die „Geisterstunde“ nicht um 1 Uhr, sondern „wenn der Morgenhahn kräht“ und zum ersten Segenspruch des Tages ruft. Aber es gibt größere Schwierigkeiten: Bialik verwendet Worte, die nur ein einziges Mal in der Bibel vorkommen, und andere, die nur unter der Voraussetzung einer ganz bestimmten Deutung in seinem Zusammenhang verständlich werden. Gelegentlich setzt er sich über die von der ältesten Bibelwissenschaft, der jüdischen Massora, unter dem Text angebrachten und fast allgemein anerkannten Lesarten hinweg und bringt ein Wort so, wie es geschrieben steht, nicht so, wie es gelesen werden soll. Einmal charakterisiert er einen Pakt mit den Worten: „Bedingung der Söhne Gads und Rubens“, was kein Mensch versteht, der nicht weiß, daß in der Mischna (Kidduschim, III, 4) der Vertrag Mosis mit diesen beiden Stämmen als das Vorbild jedes gültigen Vertrages aufgefaßt wird. Und oft sind seine Andeutungen noch viel feiner und verborgener. Zwei Beispiele: Bei der Schilderung des „Mathmid“, jenes asketisch abgeschlossenen und hingegebenen Talmudjüngers, variiert er einmal einen öfter auftretenden Refrain in der Weise, daß er die Worte „….der Jüngling, der sich mit der Thorah befaßt“ in den Ausdruck „…, der sich an die Thorah hängt“ umwandelt. Die hebräische Phrase „hachoschek bathora“ ruft nun sofort die Assoziation an eine bestimmte talmudische Gestalt wach, an Ben Asai, der, gegen Vorschrift und Übung, zum Erstaunen seiner Lehrer, Genossen und Schüler, unverheiratet blieb, und, zur Rede gestellt, die Antwort gab: „ Naphschi chaschka bathora“ — „Meine Seele hing sich an die Thora“. (Jeb. 63b.) Dieses eine Wort also erweckt eine ganze Parallele. — Und ein andermal, als Bialik die Leere und abgeleierte Gewohnheit des ermüdeten Gebetes schildern will, gebraucht er die Worte: „Nur ihre Lippen bewegen sich noch“. Das ist natürlich im einfachen Sinn für jeden verständlich; die ganze schmerzliche Tiefe dieser Ironie erfaßt aber doch nur der, dem einfällt, daß im ersten Kapitel des ersten Buches Samuel das edle Gebet der Hannah, das der beamtete Priester Eli so gröblich mißversteht und für das Lallen einer Betrunkenen hält, eben mit diesen Worten: „Nur ihre Lippen bewegen sich“ charakterisiert wird. Und nicht genug: man muß auch noch hinzurechnen, daß die Tradition gerade von jenem stillen Gebet der Hannah her unsere Vorschrift abgelernt hat, das Hauptgehet, das der 18 Segenssprüche, leise zu sprechen. Erst unter all diesen Voraussetzungen versteht man den ganzen kleinen theologischen Traktat, der in der Wahl gerade dieses Zitates an dieser Stelle enthalten ist, eines Traktates von der Ertötung des Gebetes durch seine Gesetzlichkeit, die selbst dann eintrete, wenn die ursprüngliche halachische Festlegung aus einem lebendigen religiösen Protest gegen eine vorangehende Orthodoxie (die des Priesters Eli) erwachsen ist. (7)

Zusammenfassend wird man sagen dürfen, daß nicht nur, wie E. M. Lipschütz sagt (8), dieser einzige Mensch Bialik „ein ganzes Wörterbuch dem Leben wiedergegeben“ habe, sondern daß er auch eine ganze Literatur, mit all ihren inhaltlichen Assoziationen, in das moderne Hebräisch hinüber zu retten suchte.

In dem für seine Sprachphilosophie grundsätzlichen Essay „Offenbarung und Verhüllung der Sprache“ entwickelt Bialik etwa die folgenden Gedanken: Die Geburt jedes Wortes ist eine Art Offenbarung, aber im Gebrauch sinkt es tiefer und tiefer. Trotz dieser pessimistischen Geschichtsphilosophie des Wortes tritt Bialik nicht für Neuschöpfung, sondern für Neuerfüllung der alten Formen ein — durchaus noch im Einklang mit seinem sprachlichen Traditionalismus.

Was aber ist nun das Motiv für die Geburt des Wortes? Nach Bialik nicht das gesellige Bedürfnis der Aussprache zwischen zwei Menschen, sondern gerade im Gegenteil die Angst des Einsamen vor dem Chaos. Der Mensch kann das Nichts sich gegenüber nicht ertragen — er wirft ein Wort in den Abgrund, damit er sich beruhige. Die Sprachvorstellung ist hier eine durchaus totemistische. Sprechen ward aus „Besprechen“ und ist ein Zauber, der dem Menschen hilft, sich gegenüber der chaotischen Unendlichkeit zu verdecken und sie zu verhüllen. Der horror vacui ist die eigentliche Triebfeder der menschlichen Rede — doch verringert der Wandel der Worte und Systeme (die im Großen die gleiche verbergende Tendenz haben) das Geheimnis des Seins nicht: er verhüllt die Frage nur immer neu. Die gefährlichen Augenblicke sind die Lücken in der Kontinuität der Verwandlungen, in denen unter dem Eisgang der Worte die Fluten des Chaos sichtbar werden. Und gerade in diesen kritischen Augenblicken lebt, im Unterschied zu jedem anderem, der spricht oder schreibt, der Dichter: in ihnen wird sein Wort geboren. ……

–> Der Dichter Bialik

(1) In Erinnerungssplittern, die unter dem Titel „Der Morgen meines Lebens“ zuerst
in der hebräischen Wochenschrift „Ha Olam“ und dann deutsch in der Monatsschrift „Der Jude“, 1923, erschienen sind. Die übrigen Daten verdanke ich der Einleitung Ernst Müllers zu seiner deutschen Übersetzung der „Ausgewähllen Gedichte“ Bialiks. (R. Löwit Verlag, Wien und Leipzig, 1922. Das Buch kann zur ersten Hinführung warm empfohlen werden.
(2) Unter „Halacha“ versteht man zunächst die gesetzlichen, unter „Haggada“ die erzählenden Bestandteile des jüdischen Schrifttums, insbesondere des Talmuds. Diese beiden Formen sind aber keineswegs in verschiedene Bücher oder auch nur Abschnitte auseinander gelegt, sondern eng ineinander verwebt: oft im gleichen Satz oder Ausspruch zu unlöslicher Einheit verbunden. Gerade dies Ineinander ist eines der charakteristischsten Merkmale des Talmuds. Später bezeichnet „Halacha“ das geltende Gesetz.
(3) Berühmtes Bialiksches Gedicht
(4) Titel einer seiner schönen Gedichte
(5) „Meliza“ heißt Rätsel, Andeutung, Gleichnisrede und bezeichnet eben jenen, im Text charakterisierten, Stil, der alle Eindrücke nur durch den Schleier des Bibelverses hindurch auf nehmen und wiedergeben kann.
(6) So drückt Bialik sich selber in dem Essay „Geburtswehen der Sprache“ aus. Die Essays sind für den hebräischen Leser in der ganz wundervoll gedruckten, mit Budkoschen Bildern geschmückten, vielbändigen Gesamtausgabe der Werke Bialiks (Gedichte, Essays, Novellen, Übersetzungen des Wilhelm Teil und Don Quichote) zugänglich. (Verlag der Buchhandlung Wahrmann, Frankfurt a. M.) Eine vortreffliche deutsche Übersetzung des Essays erschien vor kurzem im „Jüdischen Verlag“, Berlin.
(7) Wir haben es hier mit dem Sprach- und Formproblem zu tun und referieren den Inhalt ohne eigene Stellungnahme. Diese bleibt unseren weiteren (hier nicht mehr wiedergegebenen) Ausführungen Vorbehalten.
(8) In seinem feinsinnigen Essay „Der Stil Ch. N. Bialiks“ enthalten in „Vom lebendigen Hebräisch“ (Berlin, 1920).