„Machet keine Dummheiten, während ich todt bin“

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Vor 120 Jahren starb Theodor Herzl, der Begründer des modernen, politischen Zionismus. Seine Vision des „Judenstaates“ ist auch heute noch Quelle der Inspiration, aber auch Streitpunkt in der Frage um die Ausrichtung und Ziele des Zionismus.

Von Andrea Livnat

„Fasse ich den Baseler Kongreß in ein Wort zusammen – das ich mich hüten werde, öffentlich auszusprechen – so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universales Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es jeder einsehen.“ Mit diesen berühmt gewordenen Zeilen blickte Theodor Herzl auf den ersten Zionistenkongress, den er im August 1897 in Basel einberufen hatte. Tatsächlich sollten nur wenig mehr als fünfzig Jahre vergehen, bis David Ben Gurion am 14. Mai 1948 die Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel verlas, unter einem Bild von Theodor Herzl.

David Ben Gurion verliest die Unabhängigkeitserklärung am 14. Mai 1948, Foto: Rudi Weissenstein, National Photo Collection of Israel, ID D247-041

In der Erklärung heißt es: „Im Jahre 1897 trat der erste Zionistenkongress zusammen. Er folgte dem Rufe Dr. Theodor Herzls, dem Propheten des jüdischen Staates, und verkündete das Recht des jüdischen Volkes auf nationale Erneuerung in seinem Lande.“ 

Die Erwähnung Herzls in der Unabhängigkeitserklärung und die Bezeichnung als Seher, oder besser als „Prophet des Staates“ prägten diesen Begriff, der bis heute wie ein Synonym genutzt wird, unmissverständlich auf ihn. Aber Herzl war schon zuvor, zu Lebzeiten zu einer Legende geworden. Die Zionistische Bewegung stilisierte ihn zu ihrem heldenhaften Idol und zu einem mythischen Propheten.

„Mit dem Tode Herzls haben wir den einzigen konkreten Juden verloren; das lebende Symbol unserer ehemaligen bodenfesten Vergangenheit, unserer schwankenden, weit abliegenden Zukunft. Wir haben ein herrliches lebendiges Symbol begraben müssen.“ Mit diesen dramatischen Worten kommentierte Isidor Eliaschoff Theodor Herzls Tod im Juli 1904 in der jüdischen Monatsschrift Ost und West. Herzl hinterließ mit seinem Tod eine politische Bewegung, die sich verwaist fühlte. Neben der mächtigen Idee von der Rückkehr ins gelobte Land war es vor allem Person und Charisma Herzls, die die Massen mobilisierte, mit einem „Selbstbewußtsein, das fast terrorisierend wirkte“, wie sich ein Zeitgenosse erinnerte.

Im Laufe der neun Jahre seiner Aktivität für die zionistische Sache war er zu einer Legende geworden, zum Symbol der Erneuerung und der nationalen Unabhängigkeit, zum „König der Juden“ und zur Reinkarnation eines biblischen Helden. Von manchen wurde Herzl sogar als „Messias“ gepriesen und sein früher Tod verstärkte das Bild eines Märtyrers, der seine Gesundheit, sein Glück, sein Familienleben und sein ganzes Geld für die Idee des „jüdischen Staates“ opferte. Herzl hatte die Fähigkeit, die verschiedenen Strömungen innerhalb der zionistischen Bewegung für das gemeinsame Ziel zu vereinen. Nach seinem Tod wurde sein Bild verwendet, um diese Einheit zu beschwören. 

Herzl und ide zionistische Delegation auf dem Weg nach Palästina, Foto. The Herzl Museum via the PikiWiki – Israel free image collection project

In seinem letzten Brief an David Wolffsohn, seinen späteren Nachfolger, schrieb Herzl am 6. Mai 1904: „Ich gebrauche hier die Herz-Kur. Meine Mutter weiß nichts davon, glaubt, ich sei nur zum Ausruhen hier. Machet keine Dummheiten, während ich todt bin.“

Theodor Herzl starb am 3. Juli 1904.

Staatsbegräbnis am Herzl-Berg

Herzl wurde 1904 in Wien beigesetzt. In seinem Testament hatte er festgelegt, dass sein Leichnam nach Palästina überführt werden sollte. Jahrzehntelang versuchte die Zionistische Organisation, diesen Wunsch zu erfüllen, doch die unsichere politische Lage in Palästina und schließlich der Aufstieg des Nationalsozialismus verhinderten das Unternehmen.

Herzl wünschte sich keinen bestimmten Ort für sein Grab in Palästina, aber Freunde und Weggefährten drängten, dass nur der Karmel bei Haifa eine Option sein könne. Adolf Böhm, ein als Experte für die Frage der Überführung ausgewählter Historiker, legte 1935 einen ausführlichen Bericht vor, in dem er betonte, Herzl habe seinen Freunden nicht nur gesagt, er wolle am Karmel begraben werden, es entspreche auch seinem universalistischen Geist, „dass er sich auf einem Punkt ausruhen wollte, der nach Osten und Westen blickt“.

Als jedoch nach der Staatsgründung die Überführung von Herzls Gebeinen beschlossen wurde, fiel die Entscheidung zugunsten Jerusalems. Es war eine politische Entscheidung zu einer Zeit, als der Status der Stadt noch unklar war. Herzls Grab sollte den Anspruch Israels auf die Stadt unterstreichen und gleichzeitig als nationales Denkmal dienen.

Das Grab wurde auf einem Hügel im Westen der Stadt angelegt, der den höchsten Punkt Jerusalems darstellte und zu dieser Zeit einen Blick auf weite Teile der Stadt und der Umgebung bot. Die Knesset befasste sich am 10. August 1949 mit dem Gesetz zur Überführung und verabschiedete es. Die Überführung begann wenige Tage später mit der Öffnung des Familiengrabes in Wien. Die Särge von Herzl, seinen Eltern und seiner Schwester Pauline wurden in der Tempelgassensynagoge aufgebahrt und am folgenden Tag nach Israel geflogen, wo am Flughafen ein Staatsempfang stattfand. Der Sarg wurde dann erstmals in Tel Aviv aufgestellt. Am folgenden Tag wurde der Sarg nach Jerusalem gebracht. Bei der Beerdigung waren 6.000 geladene Gäste anwesend. Der Sarg wurde von der Ehrenwache zum Har Herzl, dem „Herzl-Berg“, wie der Hügel jetzt genannt wurde, begleitet. Tausende säumten die Straßen. Rund um das Grab, das genau auf der Spitze des Hügels angelegt worden war, waren 44 Fahnen angebracht, die die 44 Lebensjahre Herzls symbolisierten. Vertreter der jüdischen Siedlungen des Landes schütteten Erde, die sie aus dem ganzen Land mitgebracht hatten, in das Grab. Herzls Eltern und seine Schwester Pauline wurden wenige Meter von Herzls Grab entfernt bestattet.

Herzls Grab wurde zum Symbol der Einheit des jungen Staates und seiner Hauptstadt Jerusalem.

Herzl-Berg

Der Herzl-Berg wurde ein Ort der Legitimation, ein Symbol für die Souveränität und das Anrecht Israels auf Jerusalem. Obwohl die Bauarbeiten und die Gestaltung des Hügels noch nicht abgeschlossen waren, wurde 1950 beschlossen, die Eröffnungszeremonie des Unabhängigkeitstages auf dem Herzl-Berg abzuhalten. Die Feierlichkeiten wurden im ganzen Land mit dem Zünden von Fackeln auf dem Herzl-Berg eröffnet, und so passiert es im Übrigen bis heute.

Die symbolische Kraft des Ortes wurde durch seine Erweiterungen noch verstärkt. An den Hängen des Herzl-Berges wurde ein Soldatenfriedhof errichtet. Der anhaltende Krieg, der Unabhängigkeitskrieg, bei dem über 6000 israelische Soldaten und Soldatinnen fielen, machte das notwendig. Der dritte Teil des Hügels beherbergt die Gräber der „Großen der Nation“. Hohe israelische Politiker und ihre Angehörigen fanden hier ihre letzte Ruhe, zuletzt Yitzhak Rabin und Shimon Peres.

Gräber gefallener Soldaten und Soldatinnen am Herzl-Berg, Foto: haGalil

Das Herzl-Gedenken wurde mit den Jahren zu einem routinisierten und standardisierten Ereignis. Ein Ereignis, das die historische Person Herzl weiter in Vergessenheit geraten ließ und dafür das Symbol Herzl feierte. Gedenkfeiern fanden im Stillen statt, die Zeitgenossen Herzls verschwanden und Herzl war längst zu einem Symbol geworden, das ein Eigenleben entwickelt hatte, bei dem Person und Werk in den Hintergrund, und mehr noch, in Vergessenheit gerieten. Und so ist auch das Grab Herzls, wie es heute zu sehen ist. Ein schwarzer Marmorblock, auf dem schlicht „Herzl“ in goldenen Buchstaben zu lesen ist, ein Symbol, dessen Herkunft, kultureller Hintergrund und auch Privatleben vollkommen ausgeblendet sind.

Foto: haGalil

Das beklagte auch Kurt Blumenfeld, einer der führenden deutschen Zionisten. Er schrieb im Jahr 1960: „Von dem wirklichen Herzl weiß niemand etwas und will niemand etwas wissen. Er ist heiliggesprochen. Die Herzl-Saga, die heute lebt, ist sehr dürftig. Sie genügt Ben Gurion und den heutigen Führern des Staates für einen logos epitaphos, eine Trauerrede, die nichts von Herzl, dafür viel von der gängigen Israel-Rhetorik enthält.“ 

Zwischen Herzl-Berg und Klagemauer

Im Sechstagekrieg von 1967 hatte Israel den Ostteil Jerusalems erobert und sich so einen Zugang zur Klagemauer verschafft. Im Laufe der Jahre hat sich das Gleichgewicht zwischen den beiden symbolisch wichtigen Orten Herzl-Berg und Klagemauer verändert und dazu geführt, dass der Herzl-Berg seine zentrale Stellung im kollektiven Gedächtnis verlor.

Fallschirmspringer der IDF erreichen die Klagemauer, 7. Juni 1967, Foto: David Rubinger / National Photo Collection of Israel D327-047

Nach dem Sechstagekrieg veränderte sich das Selbstbild Israels und es kam zu einer Stärkung des nationalreligiösen und rechtskonservativen Lagers. Der Siegestaumel nach 1967 und die aus dem Krieg geschaffenen neuen auch geopolitischen Realitäten haben neue Schwerpunkte gesetzt. Jerusalem, die „ewige und ungeteilte Hauptstadt“, steht im Mittelpunkt dieses Selbstverständnisses, wobei die Klagemauer im Herzen Jerusalems genau die Verflechtung von politischem und national-religiösem Denken symbolisiert.

Jüdischer Staat oder Judenstaat?

Mit dem Auftreten des „Postzionismus“ sollte Herzl wieder eine zentralere Rolle in den ideologisch aufgeheizten Debatte spielen und sowohl der Rechten als auch der Linken als Legitimation dienen. 

Die Rechte versuchte, Herzls Vision für ihre eigenen Ziele zu interpretieren und ignorierte dabei die Tatsache, dass Herzls „Judenstaat“ eine politische Einheit sein sollte, die keine „jüdischen“ Eigenschaften hat, sondern vielmehr ein universeller Staat, in dem Juden leben. Ein Beispiel ist der rechtskonservative Publizist Yoram Hazony, der früher ein Jerusalemer thinktank leitete und später u.a. ein „Herzl-Institut“ gründete. In seinem Buch „The Jewish State. The Struggle for Israel’s Soul“ sowie in anderen Texten beschäftigt sich Hazony mit dem Aufkommen des Postzionismus und dessen „Gefahren“ für Israel und Herzls Vision, wie Hazony sie versteht.

Auch die politische Linke versuchte, Herzl für ihre Ziele zu instrumentalisieren. Mit dem Aufkommen des Postzionismus gab es verschiedene Versuche, Herzls Vision zur Legitimierung der eigenen Ansätze zu nutzen und so den Postzionismus in eine Tradition des Zionismus zu stellen. Es wurde argumentiert, dass der Postzionismus in vielerlei Hinsicht mit Herzls Ideen identisch sei, beispielsweise dass der Staat der Juden keine jüdischen Merkmale habe, auch Herzl habe die Trennung von Staat und Religion und eine Gleichberechtigung für alle ethnischen und religiösen Gruppen gewollt. Dabei wird wiederum ignoriert, dass Herzl mit der für das Mitteleuropa des fin de siècle typischen Ignoranz auf die Realitäten im Nahen Osten oder den „Orient“ insgesamt schaute.

Ein weiterer Aspekt ist auch in einem Schlüsselwerk der „neuen Historiker“, in Benny Morris‘ „The Birth of the Palestinian Refugee Problem“ relevant. Morris widmen sich in einem eigenen Kapitel der Idee des „Transfers“ der arabischen Bevölkerung vor 1948, die Herzl angeblich vertreten habe. Der Historiker Derek Penslar hat diese These ausführlich analysiert

Herzl weint

Im vergangenen Jahr hatten sich die Demonstrationen, die seit der Wiederwahl Netanyahus und vor allem seit dem Bekanntwerden der Pläne seiner Regierung, das Justizwesen umzubauen, stattfanden, zur größten Protestbewegung ausgewachsen, die das Land in seiner 75jährigen Geschichte gesehen hat.

Herzl tauchte relativ bald auf den Schildern der Demonstranten auf. Wie schon in den 1990er Jahren wird dabei Herzls Vision des Judenstaates, wie er sie in Altneuland ausformuliert hatte, als Ort des gleichberechtigten Miteinanders verstanden.


Immer wieder wurde auch die Herzl-Statue auf dem Wasserturm in Herzlija genutzt, um wirkungsmächtige Bilder zu produzieren, die v.a. in den sozialen Medien zu sehen sind.

 

Eines der stärksten Bilder des Jahres hat der Fotograf Ilan Lorenzi eingefangen. Es zeigt den Polizisten Adir Zakaria, der einen Hipster-Bart trägt, der ihn wie Herzl aussehen lässt, bei der Arbeit, während einer Demonstration gegen die Justizreform an einer Straßenkreuzung im Norden im Mai 2023 im Gespräch mit einem Demonstranten, der ein Herzl-Schild trägt.

Wie es weitergehen wird, wie es weitergehen kann, ist im Moment noch schwer zu sehen. Der 7. Oktober hat alles verändert. Das wichtigste ist, dass alle Geiseln nach Hause kommen. Dass der Krieg ein Ende findet und die Menschen in Israel in ihre Häuser zurückkehren können.  Nach dem Krieg wird man sehr viel aufarbeiten müssen, sowohl was die Verantwortung für den Überfall der Hamas angeht, wie auch das erschreckend ineffiziente Handeln der einzelnen Ministerien nach dem 7. Oktober. Und man wird auch das Miteinander neu überdenken müssen. Dazu kann Herzls Vision wichtige Impulse geben.

In diesem Sinne hat auch Yuval Harari in einem Beitrag zum Unabhängigkeitstag 2024 argumentiert, der Hebräisch in Jedioth Achronoth und Englisch in der Washington Post erschienen ist. Er verweist darin auf Herzls Vision und darauf, dass Herzl in „Altneuland“ Hass und Intoleranz in Gestalt der Partei von Rabbi Geyer eine Absage erteilt. In der hebräischen Version ist dieser Beitrag mit einer Karikatur illustriert, die Herzl und Netanyahu beim Armdrücken zeigt, die Zukunft Israels entscheidend.

Mehr zur Biografie Theodor Herzls

Der Judenstaat
Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage

Altneuland
  Erstes Buch: Ein gebildeter und verzweifelter junger Mann
  Zweites Buch: Haifa 1923
  Drittes Buch: Das blühende Land
  Viertes Buch: Passah
  Fünftes Buch: Jerusalem

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Weitere Texte:
Selbstbiographie
Eröffnungsrede zum ersten Kongreß
Protestrabbiner
Mauschel
Die Menorah
Letzte Briefe an David Wolffsohn

Aus den Tagebüchern
Herzls unermüdliche Arbeit für die zionistische Sache, sein Verhandlungsgeschick, seinen Sinn für Symbole und Inszenierung, seine Persönlichkeit und sein Charisma versteht man am Besten beim Lesen seiner eigenen Worte. Im folgenden geben wir Ausschnitte aus seinen Tagebüchern wider, die diese unterschiedlichen Aspekte zur Geltung bringen.

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