Serge Klarsfeld möchte kein Mahnmal sein

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Serge und Beate Klarsfeld 2007 in Jerusalem, Foto: www.klarsfeldfoundation.org / CC BY 3.0
Ein 12jähriges Mädchen wurde Mitte Juni in Courbevoie bei Paris von drei etwa gleichaltrigen Jungen vergewaltigt. Der Anführer, ihr 13jähriger Exfreund, wollte sich – so zeigen es Chatprotokolle – an ihr rächen, weil sie ihm angeblich verschwiegen hatte, dass sie Jüdin sei.
 
Von Tjark Kunstreich
 
Noch im Polizeigewahrsam posteten die muslimischen Täter Videos und Fotos, die vermuten lassen, dass die Polizei zunächst von einer Kinderei ausgegangen ist. Erst als der Fall an die Öffentlichkeit gelangte, wurden die drei tatsächlich unter Aufsicht gestellt oder inhaftiert. Wie so oft in Frankreich brauchte es erst öffentlichen Druck, um den antisemitischen Gehalt eines Verbrechens zu benennen. Und das, nachdem es nach dem 7. Oktober bereits mindestens eine so genannte „Rache-Vergewaltigung“ an einer Jüdin in Paris gegeben hat; die 32jährige hat nur knapp überlebt.
 
Auffällig am öffentlichen Umgang mit diesem Verbrechen, das von niemandem geleugnet wird, sind die Reaktionen. Zwar gingen zunächst einige Hundert Menschen in Courbevoie und später einige Tausend in Paris auf die Straße – die Empörung über die Wiederholung des 7. Oktobers im Kleinen blieb aber aus. Dabei wäre es so wichtig, die Dimensionen solcher Taten darzustellen und die Folgen, die diese haben: Die Juden trauen sich nicht mehr auf die Straße, es herrschen Hoffnungslosigkeit und Angst. Aber sie gehen nicht allein oder auch nur vorrangig vom allgegenwärtigen Islamismus aus, sondern längst auch von dem neuen linken Wahlbündnis Nouveau Front populaire (NFP), das – obschon es auf Druck sozialdemokratischer Kräfte die Gefahr des Antisemitismus benannt und den 7. Oktober verurteilt hat (allerdings ohne die Hamas als Terrororganisation zu benennen) – in den vergangenen Monaten in weiten Teilen das Personal der bystander und supporter jener antisemitischen Aggressionen stellt, die seit dem 7. Oktober über Frankreich hinwegfegen und das jüdische Leben in der Republik in bislang ungekannter Weise bedrohen.
 
Die Sprachregelungen der führenden Kräfte des NFP, der LFI (La France insoumise)-Politiker Antoine Léaument und Manuel Bompard, die von dem 12jährigen vergewaltigten Mädchen ohne mit der Wimper zu zucken als „jeune femme“ (junger Frau) sprachen, um das Verbrechen näher an die alltägliche sexuelle Gewalt und weiter weg vom antisemitischen und barbarischen Charakter der Tat zu rücken, sind weitgehend ohne Widerspruch der sozialdemokratischen oder kommunistischen oder grünen Bündnispartner geblieben: sie alle ducken sich lieber weg. Wie auch der Rest des politischen Spektrums, eben bis auf den Rassemblement National (RN), dem das Feld der Entrüstung überlassen bleibt.
 
Dass die größte Bedrohung für die Juden derzeit in Frankreich vom NFP ausgeht, dämmert inzwischen so manchem: Ein Sieg des NFP würde Frankreichs Juden endgültig zu Staatenlosen mit französischem Pass degradieren, weil eine linke Regierung die antisemitischen Banden noch mehr als bisher gewähren lassen wird. Damit nicht genug: Hinzu kommt eine weitere Drohung, die sich gegen jene wachsende Zahl verängstigter Juden richtet, die mit dem Gedanken spielen, vor dem Antisemitismus in Frankreich nach Israel zu fliehen. Ihnen wird signalisiert, dass der jüdische Staat weder Berechtigung noch Zukunft hat. Man schneidet den französischen Juden damit vorerst nur rhetorisch den Fluchtweg ab.
 
Verwunderlich ist es also nicht, dass nicht wenige jüdische (aber auch arabische) Franzosen den RN wählen werden, die Tendenz ist alles andere als neu. Die Empörung also darüber, dass Serge und Beate Klarsfeld und ihr Sohn Arno angekündigt haben, eben dies zu tun, wenn sie keine republikanische Alternative haben, ist umso bemerkenswerter, da so getan wird, als käme diese Ankündigung aus heiterem Himmel: so massiv wird die brutale antisemitische Realität Frankreichs verleugnet.
 
In der FAZ und in Le Monde zeigten nun die Philosophin Michèle Cohen-Halimi, der Schriftsteller Francis Cohen, Enkel eines Deportierten – beide als unbedingte Verteidiger des Heideggerschen Oeuvres bekannt – und der Übersetzer und Schauspieler Leopold von Verschuer, Enkel des NS-Eugenikers Otmar von Verschuer, wie diese Leugnung funktioniert. Klarsfeld hatte erklärt, dass er, vor die Wahl gestellt, eine antisemitische oder eine projüdische Partei zu wählen, selbstverständlich die projüdische wählen würde. Die drei Autoren antworten darauf: „Eine projüdische Partei ist die Spiegelfigur einer antisemitischen Partei: Es ist eine Partei, die weiß, wer die Juden sind, eine Partei, die sie erkennen kann, eine Partei, die weiß, wo sie sind. Es ist eine Partei, die die Frage beantworten kann: ‚Was ist ein Jude?‘ Und niemand kann übersehen, wohin dieser essenzialistische Diskurs geführt hat.“ Im Französischen hat „philosemitisme“ nicht die gleiche Bedeutung wie der Philosemitismus im Deutschen: Die Gleichsetzung des Philosemitismus mit einer politischen pro-jüdischen Haltung, die alles andere als „essenzialistisch“ ist, soll an das republikanische Ideal des citoyen erinnern – wie absurd das derzeit ist, erkennt man schon daran, dass die Autoren es für notwendig befinden, Cohen als Enkel eines Deportierten und Verschuer als Enkel eines Nazis vorzustellen, den man wohl nur deswegen zum Mitautoren gemacht hat. Das 12jährige Mädchen jedenfalls wurde nicht als citoyenne vergewaltigt.
 
In der taz stellten sich Serge und Beate Klarsfeld zum Verhör durch die postkoloniale Stalinistin Lea Fauth – zum Glück besitzt die als Staatsanwältin auftretende Person keinerlei Macht, aber man kennt den widerlichen Ton. Die taz behauptet, das Ehepaar stelle sich hinter den RN und Marine Le Pen, obwohl sie im Interview sagen, dass sie weiterhin Macron unterstützen: so viel zur Wahrheitsliebe. Was die Klarsfelds sagen, ist, dass sie, wären sie gezwungen zwischen einem Kandidaten des RN und der NFP zu wählen, den des RN wählen würden, weil sich dieser glaubwürdiger als die Linke vom Antisemitismus distanziert habe. Dass die historische und gegenwärtige Linke Frankreichs ein wirkliches Problem mit dem Antisemitismus hat, kann kaum jemand bestreiten, bis auf die ahnungslose taz-Stalinistin, die sich mit der geschichtlichen Wahrheit aber auch nicht befassen will, das zeichnet Stalinisten schließlich aus.
 
Den Verfassern der Antwort auf Klarsfeld in FAZ und Le Monde geht es aber ebenso wie der taz-Redakteurin nicht darum, wirklich wahrzunehmen, wie die Situation der Juden in Frankreich ist – neben Israel werden aktuell Korsika und die Bretagne als judenfreundliche innerfranzösische Alternativen diskutiert –, es geht darum, die Lebensleistung der Klarsfelds infrage zu stellen, um ihre moralische Integrität zu demontieren. Die Tatsache, dass Beate Klarsfeld ihr Leben riskiert hat, um Nazi-Mörder zu verfolgen, wird in der taz schon in Zweifel gezogen, indem „Nazi-Jäger“ in postmodern-ironische Anführungszeichen gesetzt wird. Die Tatsache, dass Serge Klarsfeld die Grundlage dafür geschaffen hat, dass fast alle der als Kinder aus Frankreich deportierten Juden namentlich bekannt sind, wird ihm nun als Partikularismus ausgelegt.
 
Die Autoren der Antwort verlangen von Serge Klarsfeld, eine Ikone der Erinnerung zu sein und zu bleiben und sich gefälligst aus dem politischen Tagesgeschäft herauszuhalten. Sie werfen ihm vor, dass er durch seine politischen Äußerungen diese Erinnerung missbrauche. Sie tun so, als benötigten Beate und Serge Klarsfeld eine Belehrung durch Heideggers und Mélenchons Apologeten, mit Unterstützung des Enkels des Massenmörders Verschuer. Dabei ist unübersehbar, dass ihr moralisierendes Bramarbasieren nur den Zweck hat, jene einzuschüchtern, die mit klaren Worten öffentlich an das Verleugnete rühren: den mörderischen Antisemitismus, der für die Juden Vergangenheit und Gegenwart ist.
 
Der jüdische Comic-Zeichner Joann Sfar, der einer jüngeren Generation als die Klarsfelds angehört, hat schon vor Jahren davor gewarnt, dass jüdisches Leben in Frankreich verschwinden könne. Er bringt die Resignation vieler Juden auf den Punkt. „Ich bin viel im französischen Fernsehen und Radio“, sagte er kürzlich. „Nun explodieren nach diesen Auftritten meine Social-Media-Accounts vor Drohungen und Beleidigungen.“ Auch er ist ein ehemaliger Linker, der nun ein politisch Obdachloser geworden ist, auch wenn er anders als die Klarsfeld, den RN nicht für wählbar hält. „Ich war immer für die Zweistaatenlösung, habe links gewählt; ich fühle mich betrogen. Und hoffnungslos. Die Mehrheit der Franzosen denkt nicht so extrem wie die Linke oder die extreme Rechte, aber diese Mehrheit schweigt. Was soll da noch kommen?“

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