Olivgrün für alle

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Ultraorthodoxe sollen nicht länger vom Wehrdienst freigestellt werden – das hat Israels Oberster Gerichtshof einstimmig entschieden. Die Richter beendeten damit eine Jahrzehnte alte Praxis, die in Israel höchst umstritten war. Für die Regierung von Benjamin Netanyahu könnte es deshalb eng werden.

Von Ralf Balke

Am Dienstag kam es zu dem Urteil, das viele erhofft und einige gefürchtet hatten. Einstimmig entschieden die neun Richter des Obersten Gerichtshofs, dass die Regierung alles in die Wege leiten soll, damit auch junge ultraorthodoxe Männer zum Militärdienst einberufen werden können. Die seit über 70 Jahre geltende Ausnahmeregelung müsse aufgehoben werden, da es für sie keine rechtliche Grundlage geben würde. Bereits im Juli 2023 war eine Klausel in dem Gesetz, das die Wehrpflicht regelt, ausgelaufen. Der Theorie nach war die Armee damit bereits berechtigt, entsprechende Einberufungsbescheide auch an alle Haredim zu verschicken, die die Volljährigkeit erreicht hatten. Doch das Kabinett von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu wies im Sommer des vergangenen Jahres die Armee an, für weitere zehn Monate mit der Rekrutierung junger Ultraorthodoxer zu warten. Man würde an einem neuen Gesetz arbeiten, das die Ausnahmeregelung modifizieren, letztendlich aber bestehen lassen würde.

Eine vom Obersten Gerichtshof gesetzte Frist, eine Neuregelung zu finden, die die Lasten der Landesverteidigung gerechter auf alle verteilt, hatte die Regierung im Frühjahr verstreichen lassen, weshalb die Richter bereits am 28. März ein Urteil gefällt hatten, wonach Haredim im wehrpflichtigen Alter, die nicht zur Armee gehen, aber an einer Religionsschule studieren, keine staatliche Unterstützung mehr für ihr Tora-Studium erhalten sollen. Das wiederum brachte – wenig überraschend – die politischen Vertreter der Ultraorthodoxen, die aschkenasische Partei Vereintes Tora Judentum sowie ihr mizrachisches Pendant Shass, auf die Barrikaden – und weil beide Koalitionspartner von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu sind, diesen auch gleich in die Bredouille. Denn wenn sie aus dem Regierungsbündnis aussteigen, verliert er seine Mehrheit in der Knesset und es gibt Neuwahlen.

Am 11. Juni hatte man deshalb eine alte Gesetzesinitiative neu in die Knesset eingebracht. Man wolle die Zahl der Haredim, die zur Armee gehen, in der Form sukzessiv erhöhen, indem man die Ausnahmeregelung modifiziert. Derzeit gilt sie für Yeshiva-Studenten bis zum 26. Lebensjahr, peu  à peu soll diese nur noch bis zum 21. Lebensjahr möglich sein. Vielen reicht das aber nicht, für sie ist es reine Kosmetik, die nichts an der Situation ändern würde. Verteidigungsminister Yoav Gallant stimmte als einziges Kabinettsmitglied deshalb in erster Lesung dagegen. Doch mittlerweile gibt es im Likud weitere Politiker, die erklärt haben, die Gesetzesinitiative in dieser Form doch nicht zu unterstützen.

Für die Mehrheit der Israelis ist die alte Regelung schon länger ein Dorn im Auge. Ursprünglich hatte sie Staatsgründer David Ben Gurion ins Spiel gebracht. Anfangs der 1950er Jahre betraf sie aber nur eine kleine Gruppe von mehreren Hundert Yeshiva-Studenten, die vom Wehrdienst ausgenommen wurde. Doch mittlerweile machen die Ultraorthodoxen rund dreizehn Prozent der Bevölkerung Israels aus. Derzeit studieren, je nach Schätzung, zwischen 63.000 und 66.000 junge Männer im Alter zwischen 18 und 24 Jahren an einer Religionsschule. Ein Großteil von ihnen erhält zudem ein Stipendium vom Staat, das deutlich höher ist, als der Durchschnittssold eines Wehrpflichtigen, was mit zu dem Unmut all derer beiträgt, die zur Armee gehen. Möglich wurde dies alles auch deshalb, weil die Parteien der Ultraorthodoxen seit Jahrzehnten an fast allen Regierungen beteiligt waren. Dafür, dass sie oftmals die Mehrheitsbeschaffer waren, ließen sie sich fürstlich entlohnen, und zwar durch die Ausweitung der Ausnahmeregelung vom Wehrdienst für eine stets wachsende Zahl von jungen Männern sowie durch immer mehr staatliche Gelder für ihre Institutionen.

Doch mit dem 7. Oktober und dem Krieg im Gazastreifen ist eine andere Situation eingetreten. Hunderttausende waren zum Reservedienst einberufen worden, nicht wenige über viele Monate hinweg. Und manche erhielten seither bereits den zweiten oder sogar dritten Aufruf, sich bei ihrer Einheit zu melden. Zwar hatten sich auch rund 2.000 Ultraorthodoxe nach dem Massaker der Hamas freiwillig zur Armee gemeldet, doch gemessen an der Gesamtzahl der Haredim waren das deutlich zu wenige. Genau deshalb ist der Unmut über die Ausnahmeregelung in der Bevölkerung gewachsen. Nicht umsonst begründete Uzi Vogelmann, der am Dienstag den Vorsitz im Obersten Gerichtshof hatte, das Urteil mit folgenden Worten: „Inmitten eines zermürbenden Krieges ist die Last der Ungleichheit härter denn je und verlangt nach einer Lösung.“ Es sei zudem eine massive Diskriminierung all derer, die ihre Zeit, Gesundheit und mitunter ihr Leben in der Armee riskieren und ihren Altersgenossen, die nur an einer Religionsschule studieren. Mit seinem Beschluss vom Juni 2023, der die Einberufung von Yeshiva-Studenten aufgehoben hatte, habe die Regierung ohnehin ihre Kompetenzen überschritten und rechtswidrig gehandelt, so die Richter weiter.

Der Oberste Gerichtshof wolle dem Staat zwar nicht vorschrieben, wie viele Haredim nun so schnell wie möglich einberufen werden sollen, warnte die Regierung aber davor, nichts zu unternehmen. Man müsse augenblicklich mit der Rekrutierung beginnen. Und Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara legte noch am selbst Tag nach, in dem sie die Verantwortlichen dazu aufforderte, bereits zum 1. Juli 3.000 Ultraorthodoxe im wehrpflichtigen Alter einzuziehen. In einem Schreiben an das Verteidigungs-, das Finanz- und das Bildungsministerium gab sie zudem die Order aus, dass gemäß des Urteils der Obersten Richter keine finanziellen Mittel mehr an Religionsschulen fließen dürfen, deren Studenten nicht beim Militär waren.

Der Ministerpräsident reagierte recht ungehalten auf das Urteil vom Dienstag. Er wittert eine Verschwörung. „Es ist schon recht seltsam, dass der Oberste Gerichtshof, der über 76 Jahre hinweg darauf verzichtet hat, die Wehrpflicht von Yeshiva-Studenten in einem Urteil zu erzwingen, das genau in dem Moment macht, in dem wir kurz davor sind, ein historisches Wehrpflichtgesetz zu verabschieden und die Zahl der einberufenen Haredim zur Armee die höchste überhaupt ist.“ Letzteres mag zwar stimmen. Aber dennoch bewegen sich die Zahlen in einem sehr niedrigen Bereich. Je nach Quelle sind es im Jahr maximal 1.800 junge Ultraorthodoxe, die zur Armee gehen, manche gehen von gerade einmal 700 aus. Dabei erreichen jährlich mindestens 13.000 das wehrpflichtige Alter.

Der Regierungschef steht nun vor einem Dilemma. Er kann einen neuen Anlauf versuchen, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das dem Urteil des Obersten Gerichtshofes irgendwie formal Folge leistet, aber Schlupflöcher für Haredim bietet, sodass am Status quo nicht wirklich gerüttelt wird. Das könnte schwierig werden, weil er nicht nur die Mehrheit der Israelis in dieser Frage gegen sich hätte, sondern ebenfalls Politiker aus den eigenen Reihen, allen voran Verteidigungsminister Yoav Gallant, dem Ambitionen nachgesagt werden, Netanyahu eines nicht mehr fernen Tages womöglich zu beerben. Auch wird der Oberste Gerichtshof oder die Bewegung für eine Qualitätsregierung, die eine der Initiatoren der Petition war, über die die neun Richter am Dienstag entschieden hatten, kein Manöver durchgehen lassen, das die Ausnahmeregelung in ihrer alten Form aufrechterhält.

Und dann sind da noch seine ultraorthodoxen Koalitionspartner, die selbstverständlich nichts unversucht lassen, dass sich nichts ändert und alles so bleibt wie es ist. Arye Deri, mehrfach vorbestrafter Vorsitzender der Shass-Partei, sagte am Dienstag, dass keine Macht der Welt das jüdische Volk vom Studium der heiligen Schriften abhalten könne und nannte die Tora eine „Geheimwaffe Israels gegen alle Feinde“. Die Haredim würden auf ihre Weise bereits einen Beitrag zur Landesverteidigung leisten, und zwar durch das Lernen an einer Yeshiva. Und Yitzhak Goldknopf, Chef der Partei Vereintes Tora Judentum, hatte im Vorfeld des Urteils bereits lauthals Kritik an allen geäußert, die nicht so leben wie die Haredim, und die Abschaffung der Ausnahmeregel fordern. „Sie verstehen uns immer noch nicht, warum wir sagen, dass wir von der Tora leben, dass wir ohne die Tora wer weiß, wo wären“, sagte er auf einer Veranstaltung in Bnei Braq. Einen vermeintlichen Tweet des ehemaligen Politikers Haim Ramon zitierend, behauptete Goldknopf ferner, dass „viertausend Haredim seit Anfang des Jahres darum gebeten haben, in der Armee zu dienen – obwohl das nicht schön zu hören ist – aber sie haben 3.300 von ihnen nicht genommen. Ihr wollt uns nicht und ihr braucht uns nicht. Warum missbraucht ihr uns dann?“

„Die wichtigste Frage ist, ob die Rabbiner nun eine Direktive erlassen werden, die es Haredim untersagt, in die Armee zu gehen, auch wenn sie nicht an einer Yeschiva eingeschrieben sind“ schreibt Yanki Farber, eine Kenner der ultraorthodoxen Szene in „Yedioth Aharonoth“. „So ein Schritt könnte zur Folge haben, dass die Finanzierung aller Jeschiwas eingestellt wird.“ Deshalb glaubt er, wird die Führung der Haredim austesten, ob die Rekrutierung von 3.000 bis 4.000 jungen Ultraorthodoxer den Obersten Gerichtshof vielleicht zufrieden stellt und damit die Gelder für die Religionsschulen nicht in Gefahr geraten. „Wenn der Oberste Gerichtshof mit diesen Zahlen zufrieden ist, können die Haredim vielleicht einige Tausend Wehrpflichtige akzeptieren.“ Unabhängig davon, wie die Diskussion weitergeht und was die Regierung nun unternimmt, die Stimmung unter den Haredim ist angespannt. Bereits jetzt kam es zu ersten Demonstrationen und Straßenblockaden, was weitere Auseinandersetzungen für die Zukunft erwarten lässt.